Im dritten Teil seiner „Erinnerungen an ganz normale jüdische Genies“ schreibt der bekannte Schriftsteller und Zeitungskolumnist über Begegnungen mit Teddy Kollek, Michael Stern, Fritz Eckhardt, Ernst Haeusserman, Manfred Mautner Markhof – und noch einmal mit Billy Wilder, Karl Farkas und Bruno Kreisky.
Von Georg Markus
Im Frühjahr 1992 durfte ich Teddy Kollek, den langjährigen Bürgermeister von Jerusalem, einen Tag lang durch Wien begleiten. „Ich sehe vieles, das ich längst vergessen glaubte“, sagte er, als er nach Jahrzehnten die Stätten seiner Kindheit wieder sah, „die Ringstraße, das Kriegsministerium, den alten Radetzky“. An einem schlichten Haus auf der Landstraße Hauptstraße 147 zeigte er zu den Fenstern einer Wohnung im ersten Stock, in der er mit seinen Eltern gewohnt hatte. Und Kollek erzählte mit einem lachenden und einem weinenden Auge eine kleine Geschichte, die davon handelte, wie er dem Wiener Antisemitismus der 1930er-Jahre eins auswischen konnte: „Ein Warenhaus im dritten Bezirk gab bekannt, es verkaufe nicht an Juden.“ Das erboste den kleinen Teddy damals dermaßen, dass er hineinging und eine geschlagene Stunde lang Anzüge, Hemden, Hüte probierte und unzählige Stücke einpacken ließ. „Als der Kassier die Rechnung präsentierte, sagte ich zu ihm: ,Tut mir leid, ich hab vergessen, dass Sie Juden nicht bedienen.‘“ Teddy Kollek grüßte höflich, ließ den Kassier mit einem Berg von Paketen stehen. Und erkannte, dass die Zeit gekommen war, Österreich zu verlassen. Das war 1935 und er ging noch im selben Jahr nach Palästina.
Geblieben ist hingegen der berühmte Rechtsanwalt Dr. Michael Stern – als einer von dreißig jüdischen Advokaten, die zwischen 1938 und 1945 als „Rechtskonsulenten“ in Wien „nichtarische Klienten“ vertreten durften. Stern verdankte dies seiner nichtjüdischen Frau, die sich weigerte, sich von ihm scheiden zu lassen und ihn damit vor der sicheren Verfolgung schützte. Ich war als junger Journalist für den „Kurier“ eine zeitlang als Gerichtsberichterstatter tätig und da lernte ich natürlich den „alten Stern“ kennen, der immer darauf achtete, dass seine Prozesse in den Medien den entsprechenden Niederschlag fanden. Aus diesem Grund lud er mich einige Male zum Frühstück in seine Kanzlei ein, was sich insofern als strafverschärfend erwies, als er dieses bereits kurz vor 5.30 Uhr einnahm. Entschädigt wurde man durch etliche Schnurren aus seinem Leben, die der begnadete Geschichtenerzähler von sich gab. So berichtete er von einem Prozess, in dem er eine der Abtreibung verdächtigte Hebamme vertrat. Mit viel Mühe gelang es ihm, für die „Engelmacherin“ einen Freispruch zu erwirken. Leider erklärte die Frau dem Richter nach der Urteilsverkündung: „Vielen Dank, Herr Rat! Und ich werd’s auch bestimmt nimmer mehr machen!“ Im hohen Alter noch infolge seiner brillanten Plädoyers geschätzt, gehörte es zu Dr. Sterns Angewohnheit, die Geschworenen aufzufordern, dem jeweiligen Angeklagten zu einem Freispruch zu verhelfen, da dieser garantiert schuldlos sei. Dies müsste man einem alten Anwalt glauben, der bereits mit einem Fuß im Grab stünde. In diesem „stand“ er gut 20 Jahre und ebenso lang arbeitete er mit dieser Masche.
Das treffendste Stern-Zitat ist aber auf seinen Sohn Peter, den sogenannten „jungen Stern“, gemünzt, der in jenen Tagen auch schon an die 60, aber bei weitem nicht so erfolgreich wie sein Vater war. Als der 88-jährige Michael Stern gefragt wurde, wie lange er noch als Anwalt tätig sein würde, antwortete er, sorgenvoll in die Zukunft blickend: „Fünf Jahr muss ich noch arbeiten, bis der Bub in Pension gehen kann.“ Der alte Stern hat dieses Ziel um nur wenige Monate verfehlt, er lebte (und verteidigte) von da an noch viereinhalb Jahre. Nicht lange genug, um „den Buben“ in Pension schicken zu können. Peter Stern brachte das Kunststück zuwege, dass sowohl die renommierte Kanzlei als auch das beachtliche Vermögen seines Vaters verloren gingen. Zu Bruno Kreisky fällt mir noch eine Episode ein, die mir allerdings vom Bundespräsidenten Thomas Klestil zugetragen wurde: Kreisky reiste, als Kanzler bereits in Pension, zu einem Kongress nach Washington, wo Klestil damals österreichischer Botschafter war und seinen Gast vom Flughafen abholte. Als Kreisky auf dem Weg zum Hotel eine Filiale der englischen Firma „Burberry“ entdeckte, bat er den Fahrer kurz anzuhalten. Der bärtige Staatsmann stieg aus, holte einen Plastiksack aus dem Kofferraum und betrat, von Klestil begleitet, das Geschäft. An der Türe fragte er noch schnell: „Sag, was heißt Schlapfen auf Englisch?“ Klestil flüsterte ihm das Wort Slippers zu, worauf Kreisky aus dem Plastiksack ein Paar Hausschuhe hervorholte und zum Verkäufer sagte: „Ich habe vor einiger Zeit in Ihrer Filiale in London diese Schlapfen – these slippers – gekauft. Leider sind sie zu groß, könnten Sie sie umtauschen?“
In dem Geschäft herrschte sogleich rege Betriebsamkeit, im Zuge derer man sich redlich bemühte, dem alten Herrn verschiedenste Größen desselben Modells vorzuführen. Kreisky probierte eine ganze Reihe von Hausschuhen, betrachtete sie vor dem Spiegel, prüfte ihre Passform, ging mit ihnen auf und ab. Und brummte nach einem guten Dutzend derartiger Versuche: „So, die da passen – these slippers fit!“ Worauf der Verkäufer entgegnete: „Sir, das sind die Schuhe, die Sie mitgebracht haben!“
Der Schauspieler Fritz Eckhardt bat mich, wann immer ich über ihn schrieb, keinesfalls zu erwähnen, dass er „halbjüdisch“ sei, weil das – wie er meinte – seiner Popularität, die er sich als „Tatort“-Kommissar Marek und als „Sacher“-Portier erworben hatte, abträglich sein könnte. Eckhardt hat sich in diesen Serien durchaus unter seinem Wert verkauft, was man an den geschliffenen Texten erkennt, die er für literarische Kabaretts in der Ersten Republik verfasste. Fritz Eckhardt hatte die Nazizeit als U-Boot in Wien verbracht und in all den Jahren unter einem Pseudonym für Kleinkunstbühnen geschrieben. So schlicht er sich nach dem Krieg dann in seinen Fernsehserien gab, so fein konnte sein Humor im persönlichen Gespräch sein. Als er mir einmal von einem im tunesischen Badeparadies Djerba verbrachten Urlaub berichtete, sagte er: „Das Publikum wird jedes Jahr schlechter. Heuer müssen überhaupt schon die vom nächsten Jahr dort gewesen sein!“ Auch Karl Farkas hat seine jüdische Herkunft eher zu verschleiern versucht (was ihm nicht wirklich gelungen ist). Als ich, wie in einer früheren Folge erwähnt, 1970 als eine Art Assistent von ihm im „Simpl“ arbeitete, kaufte ich mit meinen 19 Jahren von der ersten „Gage“ um 5000 Schilling ein uraltes Auto. Und mit diesem chauffierte ich den als sparsam bekannten Kabarettisten des Öfteren nach der Vorstellung nach Hause – eine Ehre, die sonst nur Stars wie Maxi Böhm oder Ossy Kolmann zuteil wurde. Eines Samstagabends hatte jedoch, es war nach 23 Uhr, keiner aus dem Ensemble Zeit, Farkas nach Haus zu führen. Da bot sich Herr Stern, der Schwiegersohn des „Simpl“-Besitzers Picker, als Fahrer an. Farkas stieg ein und Herr Stern fragte: „Wohin soll ich fahren?“
„Fahren Sie nur“, antwortete Farkas, „ich sag’s Ihnen schon. Hier biegen Sie rechts ab … jetzt links …“ – Weit draußen am Stadtrand, bei der Spinnerin am Kreuz, fragte Herr Stern: „Verzeihen Sie, Herr Farkas, ich dachte immer, Sie wohnen im 7. Bezirk, in der Neustiftgasse?“ „Ja, das stimmt“, ließ sich Farkas nicht aus der Ruhe bringen, „aber am Wochenende fahre ich immer in mein Landhaus in Edlach an der Rax.“
Einige Male konnte ich im Windschatten der Schauspieler, die ich im „Simpl“ kennengelernt hatte, am legendären Stammtisch des Burgtheaterdirektors Ernst Haeusserman sitzen. Über dessen Originalität und Schlagfertigkeit ließen sich mehrere NU-Folgen schreiben, ich kann hier nur wenige Beispiele anführen. Als das Mysterienspiel „Donnerstag“ am Burgtheater Premiere hatte, war dessen Autor Fritz Hochwälder aus der Schweiz nach Wien geeilt. Was Haeusserman weniger freute, war die Tatsache, dass der Dramatiker (der wie Hitler den Beruf des Tapezierers erlernt hatte) sämtliche Proben seines Stücks besuchte, bei denen er Regisseur und Schauspieler mit ständig neuen Änderungswünschen zur Weißglut brachte. Ein Umstand, der Haeusserman Gelegenheit bot, eines seiner typischen Bonmots anzubringen. Als der ungebetene Probengast wieder einmal allen auf die Nerven ging, wies ihn der Direktor mit den Worten zurecht: „Hochwälder, Sie sind der zweitlästigste Tapezierer, den Österreich je hervorgebracht hat!“ Berühmt dafür, dass er seinen Freunden mit Rat und Tat zur Seite stand, wurde Haeusserman am Stammtisch von einem Schauspieler gefragt, ob er seiner Frau gestehen sollte, dass er eine Geliebte hätte. Haeusserman dachte kurz nach und sagte dann: „Lieber Freund! Im Leben eines jeden Mannes kommt einmal die Stunde der Wahrheit. Und dann heißt’s lügen, lügen, lügen!“
Und als Papst Johannes Paul II. im Mai 1981 bei einem Attentat schwer verletzt wurde und ihm vorübergehend ein künstlicher Darmausgang eingesetzt werden musste, verkündete Haeusserman am Stammtisch: „Jetzt hat der Papst Probleme mit dem Heiligen Stuhl!“
Zu den bisherigen Geschichten über Billy Wilder, den ich in Los Angeles traf, fällt mir noch eine ein. Es geht darin um die Entstehung seines 1957 gedrehten Filmklassikers „Zeugin der Anklage“. Wilder war sich von Anfang an im Klaren darüber, dass Marlene Dietrich die ideale Besetzung für die Rolle der Varietésängerin Christine wäre, die ihren Mann am Ende eines langen Prozesses im Gerichtssaal tötet. Als der Meisterregisseur die damals 56-jährige Diva traf, um sie für dieses Projekt zu gewinnen, lehnte sie vorerst mit der Begründung ab, dass sie das Publikum so in Erinnerung behalten sollte, wie sie in jüngeren Tagen ausgesehen hatte. Nach längeren Verhandlungen gelang es Wilder dennoch, die Zusage der Dietrich zu erhalten – aber nur unter der Bedingung, dass ein bestimmter Maskenbildner, mit dem sie schon einmal gearbeitet hatte, zur Verfügung stünde. Glücklicherweise gelang es Billy Wilder, des Schminkmeisters habhaft zu werden, worauf die Probeaufnahmen beginnen konnten. Ein paar Tage später traf die Crew zusammen, um sich die ersten Bilder des Films anzusehen. Die Dietrich war entsetzt. „Billy, um Himmels Willen“, sagte sie, „ich sehe schrecklich aus, es ist eine Katastrophe.“
„Ja, weißt du, Marlene“, erwiderte Wilder, „du darfst nicht vergessen, dass der Maskenbildner seit eurem letzten Film um zehn Jahre älter geworden ist!“
Als ich den Wiener Industriellen Manfred Mautner Markhof senior Mitte der 1970er-Jahre kennen lernte, sprach ich ihn in grenzenloser Unkenntnis seiner wahren Bedeutung als „Herr Generaldirektor“ an, worauf er milde lächelnd entgegnete: „Ich bin kein Generaldirektor, ich halte mir welche!“
„Herr Präsident“ oder „Herr von Mautner“, verriet man mir später, wäre die korrekte Anrede des Bierund Senfwarenerzeugers gewesen, der als der reichste Österreicher galt. Die eigentliche Geschichte betrifft jedoch seinen damals schon etwas anachronistisch wirkenden Backenbart, dessen wahren Hintergrund er niemals verraten hat. War die seltsame Barttracht eine sentimentale Reverenz an jahrhundertealte Traditionen seiner jüdischen Vorfahren oder war sie eine Ehrerbietung dem alten Kaiser Franz Joseph gegenüber, in dessen Regierungszeit er zur Welt gekommen war? Niemand weiß es.
Eine kleine Begebenheit könnte allerdings einen Hinweis liefern, dass eher der zweite Fall ausschlaggebend war.
Als US-Präsident John F. Kennedy und Kremlchef Nikita Chruschtschow im Juni 1961 in Wien zusammentrafen, gab Bundespräsident Schärf im Schloss Schönbrunn ein Galadiner, zu dem die Spitzen des Staates und der Gesellschaft geladen waren, darunter natürlich auch der alte Mautner Markhof. Als sich die beiden mächtigsten Männer der Welt am Ende des Festes anschickten, das Schloss zu verlassen, gingen sie an dem Bierbrauer vorbei. Kennedy, der während des ganzen Abends einem Porträt Kaiser Franz Josephs gegenüber gesessen war, sah nun Mautner Markhof mit seinem mächtigen Backenbart leibhaftig vor sich stehen. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ging auf ihn zu, reichte ihm die Hand und sagte: „Thank you very much!“
In Wien kursierte damals das Gerücht, John F. Kennedy hätte angenommen, Manfred Mautner Markhof sei der alte Kaiser.