Betteln oder Schnorren?

Ultraorthodoxe Gemeinden und Jeschiwot erfreuen sich in den USA eines rasant steigenden Zuwachses, während „Austritte“ aus traditionell chassidischen Nachbarschaften eher spärlich sind.
VON PETER WEINBERGER

Gelegentlich lässt sich Elimelech Ehrlich mit dem Taxi zu den lokalen Aschirim, den Reichen, führen, um sie anzubetteln.

Nein, es stimmt nicht, dass Betteln gojisch und Schnorren jüdisch ist. Oder war es umgekehrt? Elimelech Ehrlich allerdings, ein orthodoxer Jude aus Jerusalem, scheint, wie die New York Times vom 16. Oktober 2014 berichtete, beide Professionen, das Betteln und das Schnorren, auf „High- Tech“-Niveau perfekt zu beherrschen. Jedes Jahr reist er, ausgerüstet mit einer eisernen Handkassa und einem Wi-Fi-Kreditkartenleser, von Jerusalem nach Lakewood, New Jersey, um dort drei Wochen lang in allen Jeschiwot und Wohnkomplexen der Talmudschüler zu „schnorren“. Er erzählt „Geschichtelach“ (Schnurren) und kassiert in der Regel dafür von jedem „Studenten“ einen Wohltätigkeits-Obolus von zumindest 20 Dollar, meist sogar 36 Dollar, nämlich das Doppelte von 18 Dollar, da die Zahl 18 der Tradition nach Glück bringen soll. Gelegentlich lässt er sich mit dem Taxi zu den lokalen Aschirim, zu den Reichen von Lakewood, führen, um sie anzubetteln. Abzüglich der Reise- und Aufenthaltskosten – zumindest den Flug muss er sich selbst bezahlen – reicht das Erschnorrte, mehrere zehntausend Dollar, für den Rest des Jahres bzw. zur Finanzierung besonderer Ausgaben, wie etwa von Hochzeiten und dergleichen.

Lakewood: Das ultraorthodoxe „Eldorado“
Lakewood, eine kleine Stadt mit weniger als 100.000 Einwohnern, im Ocean County von New Jersey, also südlich von New York City, gelegen, beherbergt die größte und am raschesten wachsende Gemeinde ultraorthodoxer Juden in den USA. Etwa die Hälfte aller Bewohner von Lakewood sind Ultraorthodoxe. Lakewood war ursprünglich eine Art Ferienstadt besser gestellter (WASP-)New Yorker. Infolge des Zuzugs ultraorthodoxer Familien wurden die ansässigen Afroamerikaner bereits weitgehend verdrängt. Klarerweise verlief das nicht ohne entsprechende „Rassenkrawalle“. Die Stadtpolitik von Lakewood ist nunmehr zu einem großen Teil von den Wünschen und Interessen der Ultraorthodoxen bestimmt.

BMG, Beth Medrash Govoha, ist der Name der größten charedischen Jeschiwa von Lakewood, die bereits ebenso viele Studenten hat wie Harvard. 2012 waren es 6.500, 2015 wird diese Zahl vermutlich noch bedeutend höher ausfallen. Diese Jeschiwa, ursprünglich 1943 gegründet, gehört nun zu den weltweit größten ultraorthodoxen Schulen. Der BMG Campus verfügt über vier Hauptgebäude, in denen sich acht Studiensäle befinden. Des Weiteren sind zahlreiche Wohnareale Teil des Campus. 2014 wurde ein Erweiterungsbau begonnen. Ist ein angehender Student für würdig befunden worden, die Jeschiwa besuchen zu dürfen, wird mit seinen Eltern oder Verwandten ein Gespräch über die Höhe der Studiengebühren geführt: eine individuelle Einschätzung selbstverständlich. Das soziale Großereignis am BMG Campus scheint der „Tumult“-Tag zu sein, an dem die Studenten in Lerngruppen eingeteilt werden bzw. sich um Studienpartner umschauen müssen. Am „Tumult“-Tag füllen hunderte ultraorthodoxe Jugendliche nicht gerade leise die College Plaza.

Die soziale Situation in Lakewood ist – so wie in ähnlichen Gemeinden wie Kiryas Joel (siehe NU 51) – nicht gerade rosig: Dem Zensus nach lebten 26 Prozent der Einwohner im Jahr 2010 unter der Armutsgrenze, das Pro-Kopf-Einkommen betrug im selben Jahr bloß 16.423 Dollar, das sogenannte Haushaltseinkommen 35.634 Dollar. Die wenigen wirklich Reichen, die hier wohnen, sind zum Teil „spätberufene“ Orthodoxe und politisch am äußersten rechten Rand der Republikaner angesiedelt.

Yiddish isn’t enough
„Das Wort Molekül“, erzählte Naftuli Moster, eines von 17 Kindern einer orthodoxen Familie in Borough Park, Brooklyn, der New York Times (Ausgabe vom 21. November 2014), „habe ich zum ersten Mal in meinem Leben gehört, als ich schon Senior (College Mittelstufe) am Staten Island College war. Ich schämte mich und dachte, ich wäre für einen College-Abschluss ungeeignet.“ 2011 gründete er eine Institution, die nun mit dem Bildungs- Department des Staates New York darum kämpft, den an sich vorgeschriebenen Anteil an „profaner“ Erziehung auch in Privatschulen durchzusetzen und abzusichern. In den rund 250 jüdischen Privatschulen, vor allem in den chassidischen, ist das Erlernen der englischen Sprache, des lateinischen Alphabets und der Grundrechenarten nicht selbstverständlich, sondern eine lästige Marginalie, der keinerlei Bedeutung zugemessen wird. Bezüglich eines entsprechenden Anteils an „Gojim Naches“ (Schreiben und Rechnen) im Unterricht selbst in chassidischen Schulen läuft zurzeit sogar ein Prozess gegen den Staat New York.

Für die Menschen „zu Hause“, in Borough Park, gehört Naftuli Moster nunmehr zu den Abtrünnigen, zu den Verrätern. Manche sprechen von ihm als „der Goi“, weil er inzwischen bequeme Pullover und normale Hemden trägt. Aber es finden sich immer mehr, die sein Anliegen unterstützen, sogar aus orthodox chassidischen Kreisen. Noch gehört das Addieren von natürlichen Zahlen unter 20 vielfach zu den Geheimnissen der Welt. Und Wörter wie „Molekül“ oder „Browser“ garantiert auch, denn ein „Browser“ ist nicht einer, der sich braust.

Elimelech Ehrlich aus Jerusalem dagegen ist in diese Geheimnisse sehr wohl eingeweiht: Der Umgang mit Zahlen ist eine Fähigkeit, die ein Schnorrer mit sich bringen muss, auch wenn sich die Additionseinheiten vielleicht nur in Nennwerten von Dollarscheinen (1, 5, 10, 20, 50, 100) widerspiegeln. Die Zahlen 0 – 9 sind schließlich wichtig, um den Code für den Wi-Fi-Kreditkartenleser richtig einzugeben.

Die mobile Version verlassen