Der Sohn eines armen jüdischen Einwanderers aus Polen hat Verwandte im Holocaust verloren und als junger Mann in einem Kibbuz gelebt. Dennoch erweckt der Überraschungskandidat bei den US-Präsidentschaftswahlen den Eindruck, dass ihm seine jüdische Identität mitunter unangenehm ist.
VON OLIVER GRIMM
Am 9. Februar hat Bernie Sanders Geschichte geschrieben: als erster Jude gewann er eine amerikanische Präsidentschaftsvorwahl. Dieser Sieg in New Hampshire sollte nicht sein letzter gewesen sein. Sanders hatte in den nächsten vier Wochen auch in Colorado, Kansas, Minnesota, Nebraska, Oklahoma und Vermont die Nase vor Hillary Clinton. Um seine jüdische Identität macht der 74-jährige Senator jedoch kein großes Aufsehen. Im Gegenteil: Stets spricht er nur davon, der Sohn eines armen polnischen Einwanderers zu sein. Diese Auslassung stößt manchen amerikanischen Juden übel auf. „Niemand in Polen hätte Bernie als Polen betrachtet“, sagte der Rabbiner Michael Paley neulich zur New York Times.
Dabei ist in der Familiengeschichte des 1941 in Brooklyn geborenen Sanders das Schicksal des Judentums im 20. Jahrhundert abgebildet. Sein Vater Eliasz verließ 1921 das armselige Dort Słopnice nahe Krakau als Teil jener großen Flucht aus Galizien, die Martin Pollack in seinem 2010 erschienenen Buch Der Kaiser von Amerika geschildert hat. In New York heiratete er Dora Glassberg, die Tochter eines Gewerkschaftsaktivisten, der 1904 aus der Gegend von Lublin in die USA emigriert war. Eliasz, der nun ein amerikanisierter Eli war, ernährte die Familie als Verkäufer von Farben und Lacken. Sanders besuchte eine öffentliche Schule, ging aber sonntags in einer orthodoxen Synagoge in den Hebräisch- und Religionsunterricht.
Eliasz Sanders, der mit einem Bruder nach Amerika gegangen war, hatte einen weiteren Bruder, eine Schwester und seine Mutter in Słopnice zurückgelassen. Über das weitere Schicksal dieses in Polen verbliebenen Bruders (also Bernie Sanders’ Onkel) gibt es keine Aufzeichnungen. Er dürfte vor dem Zweiten Weltkrieg nach Krakau gezogen sein, wo er nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen wahrscheinlich im Ghetto eingesperrt und ermordet wurde. Verbucht ist jedenfalls das traurige Ende der Schwester und Mutter von Eliasz Sanders, also Bernie Sanders’ Tante und Großmutter: sie wurden – wie alle rund zehn jüdischen Familien von Słopnice – am 5. November 1942 im nahen Limanowa umgebracht.
Widerwillig über die Zeit in Israel
Nach seinem Studienabschluss ging Sanders im Jahr 1963 für einige Monate nach Israel, um in einem Kibbuz nahe Haifa zu arbeiten. Dort weilte er als Gast der Hashomer Hatzair, einer betont sozialistischen Jugendbewegung. Heute allerdings spricht Sanders nur widerwillig über diese Zeit.
Wieso Sanders sich nicht offen zu seinem Judentum bekennt, ist unklar. An der öffentlichen Meinung kann es nicht liegen. Laut einer Umfrage von Pew Research sagen acht Prozent der Amerikaner, dass sie eher für einen Präsidentschaftskandidaten stimmen würden, der Jude ist, während zehn Prozent meinen, dass dies ein Anlass für sie wäre, gegen ihn zu stimmen. 80 Prozent sagten, das wäre ihnen egal. Als Mormone, Moslem oder Atheist stünde Sanders einer wesentlich feindseligeren Öffentlichkeit gegenüber.
Sanders’ Verhältnis zu Israel ist wenig kontrovers. Er befürwortet die Zwei-Staaten-Lösung, um die starke Israel-Lobby AIPAC macht er einen Bogen, er hört vielmehr auf die liberale Organisation J Street.
In gewisser Hinsicht belegt der Umstand, dass Sanders sein Judentum nicht sozusagen ständig am Revers tragen muss, wie wenig kontrovers es in den USA heute ist, als Jude das höchste Amt im Staat anzustreben. Sanders’ politisches Credo ist ein viel größeres Hindernis: Jeder zweite Amerikaner sagt laut einer Gallup-Umfrage vom vergangenen Juni, dass er niemals einen Sozialisten wählen würde.