Von Michael Kerbler
Da liegt es, dieses Buch. Mit der aufgeschnittenen Zwiebel auf dem Cover und der fetten Zeile darüber: „Beim Häuten der Zwiebel“. Die Autobiographie eines Mannes, der als Gewissen der Nation und als Praeceptor Germaniae bezeichnet wurde, liegt auf dem Tisch. Obwohl sich Grass jahrzehntelang geweigert hat, seine Autobiographie zu schreiben. „Das würde sicher eine einzige Lügengeschichte, und die schreibe ich dann lieber offen in Fiktionsform“ („Neue Zürcher Zeitung“, 16./17.Mai 1998). Und jetzt? Günter Grass riskiert mit seinem vorab publizierten Bekenntnis, zur Waffen-SS eingezogen worden zu sein, dass kaum jemand die ersten 125 Seiten liest. Sondern gleich beim vermuteten ersten Satz der Biographie zu lesen beginnt: „Zu fragen ist: Erschreckte mich, was damals im Rekrutierungsbüro unübersehbar war, wie mir noch jetzt, nach über sechzig Jahren, das doppelte S im Augenblick der Niederschrift schrecklich ist.“ Überlesen wird die Widmung, überlesen wird fatalerweise, wie der alte Grass mit dem „Ginterchen“ ins Gericht geht. Weil er damals nicht fragte, als der kaschubische Onkel, der die polnische Post in Danzig verteidigte, von den Nazis erschossen wurde. Standrechtlich. Weil er, der Pubertierende, nie zweifelte. Etwa an den heroischen Erfolgsverkündigungen des Oberkommandos der Deutschen Wehr-macht. Obwohl beispielsweise ein Mitschüler detailgenau über den Kriegsverlauf in Narvik berichtete. Von den behaupteten Erfolgen der deutschen Marine war keine Spur. Im Gegenteil: Es gab schwere Verluste. Aber keiner wagte nachzufragen. Der junge Günter fragte auch nicht, als in Danzig die Synagogen brannten. Und als die Schaufenster in Scherben fielen. Er sah zu, „allenfalls erstaunt“. Und notiert: „So beflissen ich im Laub meiner Erinnerungen stochere, nichts findet sich, das mir günstig wäre.“ Ein Einzelgänger Der Bursche, der keine Fragen stellt, wurde Mitglied des Jungvolks. Die Uniform lockte. Aber „selbst in Reih und Glied blieb ich ein Einzelgänger, der aber nicht sonderlich auffiel! Ein Mitläufer, dessen Gedanken immer woanders streunten“. Bücher zu lesen, war ihm damals schon eine Passion. Er verkroch sich in den „Simplicissimus“ und Vicki Baums „Stud. chem. Helene Willfüer“ und in die Bücher von Tolstoi und in Remarques „Im Westen nichts Neues“. Immunisiert gegen Krieg und Gewalt hat ihn die Remarque-Lektüre nicht. Ernüchtert notiert Grass in seiner Autobiographie: „Immer wieder erinnern mich Autor und Buch an meinen jugendlichen Unverstand und zugleich an die ernüchternd begrenzte Wirkung der Literatur.“ Was er da erzählt, der wortmächtige Schriftsteller, was da an Lebensweg nachgezeichnet wird, ist eine Biographie, die auf hunderttausende Männer seiner Generation passen könnte. „Ich war ja als Hitlerjunge ein Jungnazi. Gläubig bis zum Schluss.“ Und im „Ö1“-Gespräch beschönigt Grass gar nicht: „Ich hab’ mich verführen lassen.“ Er sagt nicht: „Ich wurde verführt.“ Und dann meldet sich der 15-Jährige zum Militär. Freiwillig. „Und diese Phase mit der Waffen-SS ist eine, in die ich hineingeraten bin. Sicher auch durch Dummheit. Und ich hatte – was genauso verrückt war – mich zu den U-Booten gemeldet und landete dann… als mein Jahrgang 27 gezogen wurde… bei dieser Division Frundsberg. Und das habe ich offen gelegt.“ Warum die Offenlegung so spät erfolgte? „Man kann das als Ver-säumnis ansehen, dass ich nicht darüber gesprochen habe. Ich konnte es nicht. Es steht im Buch drin. Es lag bei mir wie ver-kapselt. Ich habe auch nicht schlüssige Erklärungen dafür. Ich will das auch nicht verteidigen in dem Sinne. Und ich bin auch froh, dass es jetzt draußen ist. Es brauchte seine Zeit.“ Ja, es sei ihm jetzt leichter. „Ganz gewiss. Und ich muss das jetzt so hinnehmen, wie es auf mich zukommt. Und das ist nicht immer leicht. Ein paar der Darstellungen in der Öffentlichkeit sind regelrechter Rufmord, wo alles, was ich getan habe, dadurch sozusagen entwertet sein soll. Ich kann nur hoffen, dass das Buch am Ende spricht, auch für mich spricht, indem das zur Kenntnis genommen wird, was ich dann doch bis ins Detail niedergelegt habe.“ Sprachlosigkeit der Kriegsgeneration Drei große Themenkreise spricht Grass anhand seiner eigenen Biographie in dem Buch an, das durch die drei Monate der Zugehörigkeit zur Waffen-SS überschattet ist: die Bedeutung des Erinnerns, das Verdrängen und Vergessen, die Gefahr der Verführbarkeit durch Ideologien und die Sprachlosigkeit der Kriegsgeneration. „Auch meine Mutter, zum Beispiel, die wiederholt vergewaltigt worden ist bei der Besetzung Danzigs durch die sowjetische Armee, und die sich schützend vor meine Schwester gestellt hat, hat nicht zu Lebzeiten darüber sprechen können. Die Tatsachen hab ich erst nach ihrem Tod von meiner Schwester erfahren. Es gibt viele, auch die das KZ überlebt haben, die dazu nicht in der Lage sind … Es gibt in Israel die Klagen der Kinder, dass die, die das durchgemacht haben, nicht darüber reden können. Es hat sich jetzt Ivan Nagel in der Diskussion zu Wort gemeldet, aus einer jüdischen Familie kommend, der all diese Pein, all diese Angst, all diese Furcht, all dieses Sich-verstecken-Müssen miterlebt hat, und der auch erst Jahrzehnte später darüber sprechen konnte.“ „Wenn ihr mit Fragen zugesetzt wird“, schreibt Günter Grass, „gleicht die Erinnerung einer Zwiebel, die gehäutet sein möchte, damit freigelegt werden kann, was Buchstab’ nach Buchstab’ ablesbar steht: selten eindeutig, oft in Spiegelschrift oder sonst wie verrätselt.“ Nein, Rechenschaftsbericht ist dieses Buch keiner. Aber ein Mittel zum Zweck, jene Fragen, die der Leser dauernd an Grass stellen will, zuerst an sich zu richten. Bevor er richtet. Was treibt Grass an, sich so schonungslos der Diskussion zu stellen? Verletzbar zu sein, ausgesetzt allen, die endlich eine Chance sehen, alte Rechnungen zu begleichen. Einen Grund nennt er im Buch gleich auf Seite acht: „… weil ich das letzte Wort haben will.“ Grass ist auch offen, sich messen zu lassen. Hier und heute. „Die Verantwortungen liegen hier im Diesseits, hier messe ich mich und soll ich auch gemessen werden. Ich bin nicht bereit, irgendetwas auf spätere Gnade oder auf ein Leben nach dem Tode und andere Spekulationen zu schieben.“ Hat Grass durch die späte Klarstellung in seiner Biographie an Ansehen als moralische Instanz verloren? „Man hat mich als politisches Gewissen oder als Wappentier der Nation und all das bezeichnet. Das sind alles Etikettierungen, die von außen gekommen sind. Und das wird nun in Abrede gestellt. Ich kann sagen, ich bin dankbar dafür. Ich habe das nie für mich in Anspruch genommen. Aber ich werde natürlich weiter als Bürger wie als Schriftsteller, so lang ich noch bei Puste bin, meine Meinung dazu sagen und auch dafür einstehen. Ob das dann akzeptiert wird oder nicht, das ist nicht in meiner Hand. Das ist vorher schon fraglich gewesen. Was jetzt in der Öffentlichkeit läuft, ist sicher auch aus dem Wunsch geboren, etwas, was man zum ‚Gewissen der Nation‘ ernannt hat, loszuwerden.“ Den Amerikanern hat Grass nach seiner Gefangennahme die Zugehörigkeit zur „Frundsberg“-Division gestanden. Und auch der Schriftsteller Robert Schindel sagt, von der SS-Vergangenheit des Schriftstellerkollegen gewusst zu haben. Günter Grass überlebt mit viel Glück den Zweiten Weltkrieg. Er wird gefangen genommen, und landet – wie er schreibt – „auf der richtigen Seite“. Auf der amerikanischen Seite. Amerikanische Education Officers führten die jungen deutschen Kriegsgefangenen durch das ehemalige KZ von Dachau. „Ich hab es anfangs nicht geglaubt. Ich hab es – auch das ist der Aberwitz und Zeichen dieser Verblendung – erst geglaubt, als mein ehemaliger Reichsjugendführer Baldur von Schirach beim Nürnberger Prozess, bei den Schlussplädoyers zugegeben hat, dass es diese Massenvernichtung gegeben hat. Und er hat das damals gesagt, um seine Organisation, die Hitlerjugend, zu entlasten, ‚Meine Jungs haben das nicht gewusst‘, was in dem Sinne stimmte. Das war für mich ein Schock. Ich habe das mit diesem arroganten Satz ‚Deutsche tun so was nicht‘ abgetan und das für Propaganda gehalten, erst einmal.“ Begreifen der Dimensionen Langsam beginnt Grass die grauenvollen Dimensionen des NS-Regimes zu begreifen. Es dauerte, schreibt er in „Beim Häuten der Zwiebel“ bis … „ich mir zögerlich eingestand, dass ich unwissend oder, genauer, nicht wissen wollend Anteil an einem Verbrechen hatte, das mit den Jahren nicht kleiner wurde, das nicht verjähren will, an dem ich immer noch kranke.“ War dieser Krieg der Alliierten gegen Nazi-Deutschland ein „gerechter Krieg“? „Es war ein notwendiger Krieg. Die Sowjetunion allein hat das nicht geschafft. Es war eine ungeheure Anstrengung. Der Ruf der Russen nach der Zweiten Front war lebensnotwendig. Nur muss man umgekehrt auch sagen, ohne die Russen hätten die Amerikaner so den Krieg nicht gewinnen können. Das gehörte schon beides dazu.“ Ob der jüngste Waffengang zwischen Israel und dem Libanon ein gerechter Krieg gewesen sei? Robert Menasse hat diesen Krieg – zögernd zwar – als gerechten Krieg bezeichnet. Grass, grundsätzlich: „Jede Art von Kriegsführung führt – gewollt wie ungewollt – auch zu Verbrechen. Und ich denke an diese jungen israelischen Soldaten, die da in etwas hineingeraten, womit sie dann später in ihrer Erinnerung konfrontiert sind. Lebenslang. Wenn sie Glück haben, sind sie nicht in Dinge verwickelt, die sie belasten, aber das bringt Krieg in jedem Fall mit sich. Bei diesem anstehenden Problem wird der Krieg nie eine Lösung bringen.“ Eine Friedenslösung – so meint der Nobelpreisträger – setze den Rückzug Israels auf das alte Territorium von 1967 voraus und bedürfe der Friedensgarantien von allen Seiten. Und eines amerikanischen Engagements, das sich an der außenpolitischen Linie Bill Clintons orientiere. Günter Grass vermittelt den nachhaltigen Eindruck, der aktuellen Debatte standhalten zu wollen. Er ist offenbar bereit, den Spießrutenlauf zu ertragen. Weil er hofft, dass letzten Endes das Buch den längeren Atem hat. „Mein ganzes Leben – mein literarisches Leben und mein Leben als engagierter Bürger – ist der permanente Versuch gewesen, diesen Frühprägungen meiner jungen Jahre zu entkommen. Und daraus meine Konsequenzen zu ziehen. Entsprechend zu handeln, zu schreiben und mich zu verhalten. Und DAS zählt bei mir am Ende. Und ich glaube fest, dass das Buch sich mitteilen wird.“ Zur Person Günter Grass wurde am 16.Oktober 1927 als Sohn eines Lebensmittelhändlers in Danzig (Gdansk, Polen) geboren. Besuch des Gymnasiums. Im Zweiten Weltkrieg zuerst Flakhelfer, Arbeitsdienst, dann Einberufung zur Waffen-SS. 1945 Verwundung und amerikanische Kriegsgefangenschaft. Ab 1946: zuerst Arbeit im Untertage-Kalibergbau. Dann Steinmetzlehre. Studium der Bildhauerei und Graphik. Seit 1957: Mitglied der „Gruppe 47“. Parisaufenthalt bis 1959, die „Blechtrommel“ entsteht. Ab 1961 engagiert sich Grass für die Brandt-SPD. Grass ist Mitglied des deutschen PEN-Zentrums. Öffentliche Wortmeldungen für die Friedensbewegung. 1992 Austritt aus der SPD aus Protest gegen restriktive Asylpolitik. Zahlreiche Auszeichnungen und Preise. Grass erhält 1999 den Literaturnobelpreis. Zu seinen bekanntesten Werken zählen: „Die Blechtrommel“, „Hundejahre“, „Der Butt“, „Örtlich betäubt“, „Tagebuch einer Schnecke“, „Die Rättin“, „Mein Jahrhundert“ und „Im Krebsgang“.