Der bekannte Schriftsteller und Zeitungskolumnist hat Legenden wie Billy Wilder, Friedrich Torberg, Karl Farkas, Bruno Kreisky, Hans Weigel und Marcel Prawy getroffen und erinnert sich an sie exklusiv für NU.
Von Georg Markus
„Sie kommen aus Wien?“ Der grauhaarige Herr taxierte mich und ließ mir gar keine Zeit, ihm zu antworten. „Dann kennen Sie doch sicher die Buchfeldgasse. Ich ging dort zur Mittelschule, und wenn ich aus dem Fenster meiner Klasse sah, schaute ich direkt in das Zimmer eines stadtbekannten Bordells. Während uns der Geografieprofessor irgendetwas über die Anden erzählte, beobachtete ich eine üppige Rothaarige.“ Damals schon hätte er die Bilder vor sich gehabt, die er viel später in „Irma La Douce“ in Szene setzte, erzählte der alte Herr, nämlich Billy Wilder.
Ich weiß, dass schon der bloße Gedanke, Juden seien besonders klug, besonders interessant oder besonders schön, den ersten Anflug von Antisemitismus darstellt. Juden sind ganz normale Genies, nicht mehr und nicht weniger, und doch empfinde ich es als glückhaft, einer Reihe von ihnen begegnet zu sein.
Bei Billy Wilder musste man nur antippen. Ich traf ihn 1986 in seinem Appartement in Los Angeles, er war gerade achtzig geworden und plauderte einfach drauf los. „Wenn man früher in Hollywood John Wayne, Glenn Ford und William Holden nicht bekam, dann hat man den Ronald Reagan genommen. Auf einmal geht der Mann in die Politik und spielt keinen Cowboy mehr, sondern einen Präsidenten. Hätte ich da Regie geführt, hätte ich gesagt: Die falsche Besetzung!“
Wie in seinen Filmen ließ Billy Wilder keinen Augenblick ungenützt. Er nahm, während er mit mir sprach, den Telefonhörer ab, wählte eine Nummer, legte wieder auf, erzählte von Dreharbeiten mit der Monroe, dann wieder, wie er 1925, als Reporter des Wiener Boulevardblattes „Die Stunde“, an einem einzigen Tag Richard Strauss, Arthur Schnitzler, Alfred Adler und Sigmund Freud zum Thema Faschismus interviewte. „Das heißt, Freud habe ich nicht interviewt, der hat mich aus seiner Ordination in der Berggasse geworfen, weil er prinzipiell keine Interviews gab.“ Bei diesem Thema angelangt, stand Billy Wilder auf und putzte mit einem Staubwedel seine sechs Oscars, die im Bücherregal standen. Apropos: „Ich freu mich über jeden Oscar“, erklärte er. „Aber die Kategorie ,Bester ausländischer Film‘ wird in Hollywood wenig geschätzt. Als ich ,Boulevard der Dämmerung‘ drehte, sagte ich zu meinem Kameramann: ,Johnny, immer unscharf und leicht verwackelt. Ich möchte unbedingt den Oscar für den besten ausländischen Film gewinnen.‘“
Wenn man vierzig Jahre für Zeitungen und dreißig Jahre Bücher schreibt, lernt man unweigerlich interessante Menschen kennen, ob man will oder nicht – und warum sollte man nicht wollen. Einer war Friedrich Torberg. Die ersten Worte, die er an mich richtete, als ich im Mai 1976 mit ihm ins Gespräch kam, lauteten: „Wissen Sie, ich geh nicht mehr ins Kaffeehaus. Denn es gibt keine Kaffeehäuser mehr.“ Das Außergewöhnliche an der Situation war nur, dass wir, als er das sagte, im Café Landtmann saßen. Ich sah ihn entgeistert an. „Ja, ja, es gibt Lokale, in denen man Kaffee ausschenkt“, setzte Torberg fort, nahm einen Schluck vom Großen Braunen und zog fast gleichzeitig an seiner Zigarette. „Es gibt solche Lokale. Aber das, was ich einmal unter einem Kaffeehaus verstanden habe, das gibt es nicht mehr.“
Torberg sprach von der Spezies jener Literatencafés, die 1938 mit dem Einmarsch der Nationalsozialisten ihrer Stammgäste und damit auch ihrer Funktion beraubt worden waren. Und an deren Marmortischen er wichtige Szenen seiner „Tante Jolesch“ spielen ließ.
Tatsächlich war Torberg selbst ein geistiger Enkel der Tante Jolesch – ein Original mit intelligentem Witz also. Hier ist der Beweis: Er und Rudolf Angerer, der Torbergs Bücher illustrierte, fuhren einmal mit dem Auto durch Wien. In Währing kamen sie an einer Süßwarenhandlung mit der Aufschrift „Zuckerl-Mayer“ vorbei. Torberg kommentierte trocken: „Das ist der, der ,Des Teuferls General‘ geschrieben hat.“
Das erste ganz normale jüdische Genie, das ich traf, war Karl Farkas, für den ich – noch ehe ich Journalist wurde – ein Jahr lang am Simpl arbeitete. Ich war 19 und hörte ihm fasziniert zu, wenn er vom Kabarett der Zwanziger- und Dreißiger-Jahre, von Fritz Grünbaum und Armin Berg erzählte. Die Atmosphäre, die ich im Simpl vorfand, war einzigartig, zumal vom Altmeister des Wiener Kabaretts ein besonderer Zauber ausging. Am Beginn jeder Vorstellung taxierte er die „Qualität“ der Zuschauer. Lachten sie bei seiner ersten Conférence nur leise in sich hinein, zischelte er seinen Kollegen beim Abgang von der Bühne grimmig zu: „Heut schenk ich Sie euch!“ Tobte das Publikum vor Begeisterung, brummte er zufrieden: „Sturm über Asien!“
Das vertrauliche Du pflegte Farkas nur mit Ernst Waldbrunn und Hugo Wiener – allen anderen, selbst Stars wie Maxi Böhm, Heinz Conrads und Fritz Muliar, stand er reservierter gegenüber. Wenn ihm ein Auftritt missfiel, dann sagte er es. Gelobt wurde nie. Als Muliar jedoch einmal nach einem Sketch von der Bühne abging, flüsterte ihm Farkas ins Ohr: „Gut sind sie heute, sehr gut!“ Muliar bedankte sich, überglücklich, endlich die Anerkennung des Meisters gefunden zu haben. Worauf der erwiderte: „Nicht Sie! Die Leute sind gut! Sehr gut sind sie heute!“ Doch auch die Simpl-Besucher entkamen seinem beißenden Spott nicht. Als eine Zuschauerin die Vorstellung durchhustete, rief ihr Farkas von der Bühne aus den Satz zu: „Gnädige Frau, Ihr Husten ist schon bedeutend besser geworden. Vor der Pause haben Sie ununterbrochen gehustet, jetzt husten Sie nur noch in meine Pointen hinein!“
Ja, es gab viele Pointen, in die man hineinhusten konnte, denn Farkas hatte ein unendlich großes Repertoire davon – in der Vorstellung wie auch nachher in seiner Garderobe oder im Kaffeehaus. Und doch war er ein ernster Mensch, der öffentlich nie über sein Judentum sprach, weil er es nicht fassen konnte, nach jahrelanger Flucht und der Ermordung seiner beiden Schwestern und seines kongenialen Kabarettpartners Fritz Grünbaum um nichts weniger beliebt zu sein als vor dem Krieg. Und weil er diesen Status nicht gefährden wollte. Ja, selbst Antisemiten liebten ihn. Ich hörte einmal einen Simpl-Besucher sagen: „Den Muliar, diesen Juden, mag i net. Aber den Farkas, den hab i gern!“ – Dass es sich genau umgekehrt verhielt, spielte keine Rolle. Privat sprach Farkas sehr wohl über seine jüdischen Wurzeln. Doch schien dieser ernste, ganz andere Karl Farkas nichts mit dem Komödianten, der auf der Bühne stand, zu tun zu haben.
Natürlich habe ich auch interessante Nichtjuden getroffen. Kreisky zum Beispiel. Nein, halt, das ist jetzt unfair! Weil er nämlich den oft zitierten Satz „Ich bin kein Jude mehr“ gar nicht gesagt hat. Hat er mir jedenfalls gesagt. Wir kannten einander nicht nur von Kanzler zu Journalist, sondern auch, weil meine Großmutter Ida Ornstein aus demselben mährischen Städtchen Trebitsch stammte wie seine Mutter Irene Felix – und Jugendfreundinnen waren. „Meine Mutter und Ihre Großmutter“, erklärte er mir einmal in seiner Villa in der Armbrustergasse, „kamen aus Familien mit jeweils 16 Kindern, was selbst in der damaligen Zeit außergewöhnlich war.“ Und dann erfolgte auch schon das Dementi zu seiner oft kolportierten Abwendung vom Judentum: „Meine Familie hat sich zum jüdischen Glauben bekannt, umso dümmer sind die Vorwürfe, die gegen mich erhoben wurden, weil ich angeblich versucht hätte, mich meines Judentums zu entledigen. Das Judentum ist Teil meines Wesens und meines Charakters, etwas anderes habe ich nie behauptet, es wäre auch lächerlich gewesen.“
Zum ersten Mal politisch gedacht, sprach Kreisky weiter, hätte er im Alter von sieben Jahren. „Ich wollte damals schon ein ,Roter‘ werden. Wir haben auf der Schönbrunner Straße gewohnt, und da gab’s einen Beserlpark, in dem ich immer mit meinen Freunden gespielt hab. Als die Monarchie zusammenbrach, durften wir plötzlich im Rasen herumlaufen, was bis dahin streng verboten war, denn in unserer Nähe wohnte ein christlichsozialer Gemeinderat, der uns an den Ohren gezogen hat, wenn er einen im Gras erwischte. Nach Ausrufung der Republik kam der nicht mehr, und da haben wir natürlich gleich im Gras gespielt. Aber dieser paradiesische Zustand dauerte nur einen Tag, dann war schon die Schutzwache da und hat uns wieder vom Rasen gestampert. Da hab ich zu meinen Freunden gesagt: ,Buam, ich glaub, des is gar ka Revolution.‘“ Der Beserlpark heißt heute Bruno- Kreisky-Park.
Mit den beiden Herren der folgenden Geschichte war ich befreundet, was insofern einem Wunder gleicht, als sie selbst miteinander verfeindet waren. Wenn ich mich recht erinnere, ging es in ihrer erbitterten Gegnerschaft um die unter Juden gerne ventilierte Frage, ob man die Musik Richard Wagners lieben dürfe oder nicht. Es ergab sich jedenfalls, dass eines Abends der Kritiker Hans Weigel mit der Schauspielerin Louise Martini im Café Volksoper saß. Plötzlich betrat ein stattlicher Herr das Lokal und grüßte höflich. Weigel grüßte ebenso höflich zurück.
Als der stattliche Herr außer Sichtweite war, fragte der – extrem kurzsichtige – Hans Weigel seine Tischnachbarin, wen er da soeben gegrüßt hätte.
„Das war der Prawy“, antwortete Louise Martini.
Kaum hatte er diese Auskunft erhalten, begann Weigel aufgeregt in seiner Aktentasche nach irgendwelchen Papieren zu suchen. Er sprang auf und lief zu Prawy, dem er die Unterlagen vors Gesicht hielt: „Das sind ärztliche Atteste“, sagte er, „die bescheinigen, dass ich schlecht sehe. Nur so konnte es passieren, Herr Doktor Prawy, dass ich Sie gegrüßt habe.“
Sprach’s und ging zurück an seinen Tisch.
Gerne ließ sich Prawy hingegen von Jörg Haider grüßen, ja mehr noch: Irgendwann wurde mir zugetragen, dass „Marcello“ bei einer FPÖ-Veranstaltung aufgetreten war, und ich fragte ihn, wie er denn auf diese Schnapsidee gekommen sei. Da erzählte er mir, dass er kürzlich an der Hüfte operiert wurde und kein einziger Politiker ihm Genesungswünsche ins Spital geschickt hätte – außer Haider.
„Und deswegen musst du auf einer FPÖ-Veranstaltung ein Referat halten?“, fragte ich Prawy.
„Ich hab geglaubt, ich kann dort ein paar Leute überzeugen“, entgegnete er. Gab dann aber zu: „Genützt hat’s nix. Es war ein Fehler.“
Weigel war übrigens nicht nur mit Prawy, sondern gelegentlich auch mit Torberg verfeindet. So einig sich die beiden Kritikerpäpste im Boykott der Werke Bert Brechts waren, so unterschiedlich war ihre Einstellung zum Judentum. Während man Weigel vorwarf, den Antisemitismus zu bagatellisieren, schrieb Torberg unermüdlich gegen das Vergessen in der Geschichte an. Und fand über seinen Widersacher die Worte: „Der Weigel ist der einzige Mensch in Österreich, der glaubt, dass der Weigel kein Jud ist!“
Sie alle sind nicht mehr da, und sie fehlen ebenso wie Gerhard Bronner, Hugo Wiener, Ephraim Kishon, Peter Ustinov, Teddy Kollek, Henry Grunwald, Friedrich Hacker und viele andere, die ich ebenfalls traf, und deren Geist, Witz und Charisma sich unauslöschlich in mein Gedächtnis geprägt haben. Auf dem Gebiet der ganz normalen Genies – auch der jüdischen – hat sich wenig Nachwuchs eingestellt.
Alle die genannten Herren waren bis ins hohe Alter überaus aktiv. Auch Billy Wilder, der zwar keine Filme mehr drehte, aber immer noch irgendwie Regie führte. Ein halbes Jahr bevor ich ihm in Los Angeles begegnete, musste er sich einer Darmoperation unterziehen. Als man ihn in den Operationssaal schob, reichte er dem Chirurgen einen Zettel, auf dem geschrieben stand: „Achten Sie darauf, dass Sie keine Werkzeuge in meinem Körper herumliegen lassen. Zählen Sie gewissenhaft Ihre Instrumente. Vor und nach der Operation! Billy Wilder.“
Die Ärzte haben seine Anweisungen offensichtlich befolgt, denn der Meisterregisseur hatte noch einige gute Jahre vor sich. Und wusste selbst die letzte Stunde seines Lebens pointiert zu kommentieren. „Ich möchte“, sagte er, ehe ich ging, „im Alter von 104 Jahren von einem eifersüchtigen Ehemann erschossen werden, der mich mit seiner jungen Frau im Bett erwischt hat.“
Das war nebbich so ziemlich die einzige Inszenierung, die ihm nicht so ganz gelungen ist. Er starb, ganz friedlich, mit 96 Jahren.