Mit den Juden ging der Bagel um die Welt.
Von Axel Reiserer
Der Optimist sieht den Bagel, der Pessimist sieht das Loch (Leonard Sorcher, Life’s Little Jewish Instruction Book). Wir sind, was wir essen. Wer sich vorwiegend von Hamburgern ernährt, drückt zumindest nicht gerade Distanz zu den USA aus. Wer Pasta liebt, wird Italien nicht hassen. Beim Verzehr von Sushi genießen wir auch die Raffinesse Japans. Und wer einen Bagel kauft, der hält mehr als einen Ring aus gebackenem Germteig in der Hand. “Der Bagel hat keinen Anfang und kein Ende wie der ewige Kreislauf des Lebens”, schreibt Claudia Roden in “The Book of Jewish Food”. Doch nicht jedes kreisrunde Brot mit einem Loch in der Mitte ist ein richtiger Bagel (auch Beigel, Beygl oder Baygl geschrieben, bis sich die amerikanisierte Schreibweise durchgesetzt hat). Zwar besteht ein Bagel in seiner reinsten Form eigentlich nur aus Mehl, Germ, Wasser und Salz. Dennoch gibt es unzählige Rezepte, die einst als Geheimnisse von Generation zu Generation weitergegeben wurden, um den besten Bagel herzustellen. Eine Besonderheit zeichnet jedoch jeden Bagel aus: Der rohe Teigring wird erst kurz in siedendem Wasser gekocht, dann abgeschreckt und schließlich gebacken, bis eine goldbraune Kruste entstanden ist. Der perfekte Bagel ist innen flaumig weich und außen knusprig. Manche lesen aus dieser Verbindung von Wasser und Feuer und der kreisrunden Form dieses aus schlichten Zutaten bereiteten Gebäcks einen geradezu symbolischen Charakter ab. Roden schreibt: “Wegen seiner Form wurde der Bagel in alter Zeit als Schutz gegen Dämonen und böse Geister gesehen, der den bösen Blick abwenden und Glück bringen sollte. Aus diesem Grund reichte man Bagels bei Beschneidungen, wenn eine Frau niederkam und nach Begräbnissen.” Eine profanere Erklärung für das Loch in der Mitte des Bagels ist, dass man die Ringe auf eine Schnur oder einen Stab ziehen und damit größere Mengen bequem transportieren konnte. Ebenso ungeklärt ist bis heute die genaue Herkunft des Bagels. Eine Legende besagt, dass es von einem jüdischen Bäcker in Wien 1683 als Dank an Jan Sobieski für die Befreiung von den Türken geformt wurde. Die runde Form sollte den polnischen König, einen passionierten Reiter, an die Steigbügel seiner geliebten Pferde erinnern. Das Wort Beygl leitet sich demnach direkt vom Wort Bügel ab. Dem widerspricht Leo Rosten in seinem Standardwerk “The Joy of Yiddish”, demzufolge die erste schriftliche Erwähnung des Bagels bereits 1610 in den Verordnungen der jüdischen Gemeinde von Krakau zu finden ist. Dort heißt es, dass Bagels zu jenen Geschenken gehören, die man Wöchnerinnen und Hebammen als Glücksbringer bringen soll. Bagels werden außerdem als taugliches Hilfsmittel für zahnende Kinder erwähnt. Aus dem Umstand, dass das Wort “Beygl” in dem Text nicht weiter erklärt wird, schließt Rosten, dass das Gebäck 1610 in der Gemeinde bereits allgemein bekannt war und damit noch bedeutend älter ist. Wer auch immer den Bagel erfunden haben mag, alle Spuren führen in die jüdischen Gemeinden Mittel- und Osteuropas, die längst nicht mehr existieren, deren Erbe aber weiterlebt. Überall in Polen kann man bis heute am Markt und auf der Straße “obwarzanki”, mit Sesam oder Mohn bestreute Brotringe, kaufen. In Russland findet man dasselbe Gebäck unter dem Namen “bubliki”. In seinem zweiten Cellokonzert verwendet Dmitri Schostakowitsch ein Motiv aus dem Odessaer Straßenlied “Kauft meine Bubliki, kauft!” In der Stadt am Schwarzen Meer erzählte man sich einst folgenden Witz: “In einer der zahllosen Musikschulen Odessas fragt der Lehrer seine Schüler: Viele der besten Geigenspieler der Welt waren und sind Juden. Aber wir haben keine berühmten Pianisten hervorgebracht. Warum? Was ist der Unterschied zwischen den beiden Instrumenten? Ein Schüler meldet sich zu Wort: Haben Sie jemals versucht, mit einem Klavier zu flüchten?” Als man sich diesen Witz erzählte, war die jüdische Massenemigration aus Russland und Osteuropa bereits voll im Gang. Mit ihnen kam Ende des 19. Jahrhunderts auch der Bagel nach Westeuropa und in die Vereinigten Staaten. Allein in New York lebten 1910 offiziell rund 800.000 osteuropäische Juden, das waren 14 Prozent der damaligen Bevölkerung, schreibt Nancy L. Green in ihrer Studie “Immigrant Jews in Paris, London, and New York”. Rasch entstanden in New York in düsteren Kellerlokalen zahlreiche Bagel-Bäckereien. 1907 wurde die International Bagel Bakers Union gegründet, in der sich die damals rund 300 Bagel-Bäcker der Stadt zum Schutz ihres Berufs organisierten. Nur Söhne von Mitgliedern wurden als Lehrlinge in Bagel-Bäckereien aufgenommen. Über die jüdische Gemeinde hinaus Verbreitung fand der Bagel dann Ende der 1920er Jahre, als der aus Lublin emigrierte jüdische Bäcker Harry Lender die erste Großproduktion aufzog, in der täglich bis zu 400 Bagels von Hand gefertigt wurden. In vielen Einwandererkommunen New Yorks setzte sich der Bagel durch und die verschiedensten Varianten kamen auf. Der Klassiker schlechthin ist bis heute der Bagel mit Räucherlachs und Streichkäse. Zu einem Massenprodukt wurde der Bagel in den USA schließlich, als Mitte der sechziger Jahre jahrzehntelange Bemühungen der Familie von Meyer “Mickey” Thompson, einem jüdischen Einwanderer aus dem englischen Hull, zur Herstellung einer Bagel-Maschine von Erfolg gekrönt waren. Heute werden in den USA und Großbritannien Milliarden Dollar Umsätze mit maschinell hergestellten Bagels gemacht, die in jedem Supermarkt zu finden sind. Auch Lender’s Bagels gibt es noch, doch die Marke gehört seit 1984 dem Lebensmittel-Multi Kraft. Die Söhne von Firmengründer Harry, Murray und Marvin, wollten jedoch mit dem Industrieprodukt “ohne Kruste, ohne Geschmack, ohne Charakter” nichts zu tun haben und gingen zurück zu den Wurzeln. Sie begannen, wieder von Hand Bagels herzustellen. Diesen Weg hat Sammy Minzly nie verlassen. Seit fast 35 Jahren betreibt er in der Brick Lane im Londoner Eastend seine Bagel-Bäckerei, die 365 Tage im Jahr rund um die Uhr geöffnet ist. Wenige Meter von seinem “Beigel Bake” entfernt erinnert in der Princelet Street die ehemalige Synagoge daran, dass hier einst das Hauptwohngebiet der mehr als 200.000 Juden war, die zwischen 1881 und 1925 aus Osteuropa nach England kamen. Im Haus Nummer 19, das einst einer Hugenotten-Familie gehörte, die aus Frankreich geflüchtet und in London als Textilfabrikanten reich geworden war, errichteten sie 1869 die erste Synagoge des Eastend. Heute wird das Haus von einer Privatinitiative als Museum der Einwanderung geführt. Da es einsturzgefährdet ist und das Geld für eine Renovierung fehlt, ist das Haus nur an wenigen Tagen im Jahr und gegen Voranmeldung geöffnet. Besucht man das Haus, kann man die Zeichen der Einwanderer sehen, und manchmal glaubt man, ihre Stimmen zu hören. Jüdische Stimmen hört man im Eastend aber kaum mehr. Heute leben hier mehrheitlich Einwanderer aus Bangladesch, während die Juden in den Norden Londons gezogen sind. Zu Sammy Minzly kommen sie aber immer noch. “Mein ältester Stammkunde ist 86 Jahre alt. Ich kenne ihn seit mehr als 40 Jahren”, erzählt Minzly, der durch reinen Zufall zum “Bagel-König” des Eastend wurde. “Nach meinem Dienst bei der israelischen Armee kam ich 1958 nach London. Es gefiel mir hier und ich beschloss, bei den zahlreichen Bagel-Bäckern, die es damals hier noch gab, das Handwerk zu erlernen. Mein Vater, der Ingenieur war, war entsetzt.” Nach Jahren übernahm Minzly schließlich mit zwei Partnern den ältesten Bagel-Laden des Eastend und machte den “Beigel Bake” zu einer Institution. “Zu uns kommt jeder: Touristen aus aller Welt und die Bewohner der Nachbarschaft, Polizisten und Prostituierte, Straßenkehrer und Banker, Spätheimkehrer und Frühaufsteher.” Das Geschäft geht gut: “Wir verkaufen an einem normalen Wochentag rund 8.000 Bagels und am Wochenende rund 10.000 Stück.” Selbst Popstar Mariah Carey wurde hier schon beim Verzehr eines Salt Beef Bagels gesehen. Die Künstlerin Rachel Whiteread, die das Mahnmal auf dem Wiener Judenplatz gestaltet hat, wohnt praktisch um die Ecke. Beim “Beigel Bake” gibt es auch Brot, Kuchen und “platzl”, ein Gebäck aus einem Bagel-ähnlichen Teig mit Zwiebeln. Aber es dominiert die klassische Bagel-Auswahl. Nach dem Plain Bagel ist der magische Brotring gefüllt mit Räucherlachs und Streichkäse der meistverkaufte, gefolgt vom Salt Beef Bagel (mit einem kräftigen Zusatz feurigen englischen Senfs) und dem Bagel mit Eiaufstrich. Köstlich ist auch jener mit gehacktem Hering. “Das Wichtigste ist, dass wir gute Qualität für wenig Geld anbieten. Deshalb kommen die Leute zu uns und deshalb kommen sie auch immer wieder”, meint Minzly, der wie seine rund 25 Angestellten, darunter sein Sohn, wie in den Anfangsjahren im Schichtdienst seine Arbeit verrichtet. Sein eigenes Bagel-Rezept verrät er – natürlich – nicht. “Unseres ist das Originalrezept, wie ich es gelernt habe”, ist das Einzige, was sich Minzly dazu entlocken lässt. Doch auch wenn er Kunden aus aller Welt hat, bleibt der Bagel für ihn “selbstverständlich ein jüdisches Produkt. Es ist ein Teil unserer selbst und unserer Geschichte.” Mit seinen moslemischen Mitbürgern hat er auch in diesen rauen politischen Zeiten keine Schwierigkeiten: “Die Hälfte meiner Angestellten sind Moslems. Das ist kein Problem. Wir kommen alle miteinander aus. Sogar unsere irische Verkäuferin und ich”, sagt Minzly und lacht, während die resolute Decla mit einem riesigen Messer Pakete von Räucherlachs aufschlitzt. “Das will ich dir auch raten”, gibt sie lachend zurück. Nirgends, so scheint es, ist die Idee vom “Schmelztiegel” der Verwirklichung näher als in der Küche.