Aus Alt mach Neu

Das Europäische Parlament setzt sich aus 705 Mitgliedern (MdEP) zusammen, die in den 27 Mitgliedstaaten der erweiterten Europäischen Union gewählt worden sind. ©TIM RECKMANN/FLICKR

Von Michael J. Reinprecht

„Politiker sagen vor jeder Wahl, dass diese so wichtig sei, wie nie zuvor. Für die Europawahl 2024 trifft das zu“. Der österreichische Unternehmer und ehemalige liberale Politiker Veit Dengler brachte es in einer Kolumne im Standard auf den Punkt: Die kommenden EU-Wahlen stellen eine entscheidende Weichenstellung für den Kontinent dar – und über diesen hinaus.

Seit den letzten Europawahlen im Mai 2019 hat sich die Weltlage – und damit auch die Lage in Europa – radikal geändert: Mit dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober ist die Welt unsicherer geworden. Der Krieg in der Ukraine hat die Europäische Union remilitarisiert und zusammenrücken lassen. Auch andere Herausforderungen sind gewaltig: Klimakrise, Migrationsbewegungen, Energieversorgung und hohe Inflation sind die Schlagworte dieser Gemengelage. Dazu kommt die Unsicherheit der künftigen politischen Entwicklung der Vereinigten Staaten, deren Präsidentschaftswahlen nur knapp fünf Monate nach den EU-Wahlen abgehalten werden. Und nicht zuletzt droht China für Europa endgültig zum übermächtigen wirtschaftlichen Konkurrenten zu werden.

Mit qualifizierter Mehrheit

Mittelfristig wird die Europäische Union aus 30 Mitgliedstaaten bestehen – oder mehr. Mit der derzeitigen Struktur stellt diese Erweiterung eine große Herausforderung dar, weshalb die Union nicht nur effizienter werden muss, sondern auch entsprechende Überzeugungsarbeit bei der Bevölkerung leisten muss. Wichtiger Träger dieser notwendigen weiteren Demokratisierung der EU ist dabei das Europäische Parlament, das im November 2023 den Vorschlag einer weitreichenden Reform der Union vorgelegt hat.

Schon heute hat die europäische Volksvertretung die Budgethoheit inne, kontrolliert die Exekutive und ist – das ist die Kernkompetenz der 720 Europaabgeordneten – gemeinsam mit dem Rat, also den Mitgliedstaaten, der Gesetzgeber der Europäischen Union. Zwei Drittel, der für die Menschen in Österreich gültigen Rechtsvorschriften und Gesetze werden nicht in Wien, sondern in Brüssel und Straßburg beschlossen. Ob die Bürgerinnen und Bürger am 9. Juni von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen und wem sie angesichts der politischen Entwicklung ihre Stimme geben, ist also von großer Bedeutung.

Denn der gegenwärtige Rechtstrend in Europa kann eine Gefahr für die Stabilität der Europäischen Union sein. Auch darum ist eine Reform unabdingbar: Schlanker soll die Union werden, die neue Europäische Exekutive (vormals: Kommission) soll nur mehr 15 Mitglieder haben, das Vetorecht einzelner Länder großflächig abgeschafft werden. Der Rat, also die derzeit 27 Mitgliedstaaten, soll nur mehr mit qualifizierter Mehrheit entscheiden, auch in Fragen der gemeinsamen Außenpolitik und des Erweiterungsprozesses – von absoluten Ausnahmefällen, etwa militärische Fragen betreffend, abgesehen. Die österreichische Neutralität würde dadurch im Übrigen nicht berührt. Diese Vorschläge der Europaparlamentarier vom 23. November 2023 sollen in einen neuen Konvent der Union münden, den die Mitgliedstaaten einzusetzen haben.

Kompliziertes Gebilde

Heute ist es in wichtigen Fragen durchaus möglich, dass einzelne Mitgliedstaaten ihr nationales Interesse über das der Gemeinschaft stellen, die Partnerländer im Regen stehen lassen oder gar erpressen, so wie jüngst im Vorfeld der Entscheidung zur Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine geschehen.

Doch wenn die die Europäische Union ihre innere Verfasstheit von Grund auf ändern soll, kann das nur funktionieren, wenn die knapp 450 Mio. Menschen der EU „ihrer“ Europäischen Union den Rücken stärken. Ohne die Unterstützung durch die Bürgerinnen und Bürger geht nämlich gar nichts. Auch deshalb fordert der Entwurf zur Änderung der EU-Verträge stärkere Transparenz und mehr Demokratie. Es stellt sich die bekannte Frage: Wie kann die Zustimmung zu Europa erhöht werden, wenn die Menschen das Gefühl haben, von einer fernen Elite gelenkt zu werden? Die Vorschläge zu öffentlichen Tagungen der Ministerräte, zu einem legislativen Initiativrecht für das Europäische Parlament und zu einer stärkeren Mitentscheidung des Parlaments beim mehrjährigen Finanzrahmen wollen diesem Misstrauen entgegentreten. Auch sollen die Kompetenzen der EU ausgeweitet und Politikbereiche wie Umwelt- und Klimapolitik gänzlich, Gesundheit und Bildung großteils in die Zuständigkeit der Union transferiert werden.

Im komplizierten EU-Gebilde sind der Rat, die Kommission und das Parlament die drei großen Player. Doch während der Rat der Fachminister oft der Versuchung unterliegt, nationale Partikularinteressen zu verfolgen, sind die Kommission als Exekutive sowie das Europaparlament als europäische Volksvertretung vor der Verführung des Nationalismus gefeit. Ob das auch so bleibt, wird das Ergebnis des kommenden Urnenganges zeigen: Mitte Juli wird sich das Parlament neu konstituieren und werden sich die Fraktionen neu bilden.

Sie spiegeln dann das Wahlergebnis für die realpolitische Arbeit der Parlamentarier wider: Die Spitzenpositionen werden neu vergeben, zuvorderst die Führungspositionen der Kommission und des Parlaments, dessen fünfjährige Legislaturperiode mit der Amtszeit der Kommission gleichgeschaltet ist. Zuletzt sorgte Ratspräsident Charles Michel mit seiner Ankündigung, bei der Europawahl antreten zu wollen, für Kritik: Denn damit hätte der wallonische Liberale sein Amt früher als geplant aufgegeben. Und weil Ungarn im Juli turnusmäßig den Vorsitz im EU-Ministerrat übernimmt, hätte die Sitzungsleitung bei Viktor Orbán gelegen. Wenig später ruderte Michel zurück.

Gleich in der ersten Plenartagung Mitte Juli wird der Präsident oder die Präsidentin des Hohen Hauses gewählt. In den letzten Jahren konnten sich die großen Parteifamilien nicht auf einen Kandidaten einigen – es kam es zu Halbzeitlösungen, die Periode wurde unter den fraktionsstärksten Parteien EVP und S&D aufgeteilt. Ob das auch diesmal der Fall sein wird, ist offen. Hat das Wahlergebnis die politischen Ränder gestärkt, so verkompliziert das die Übung.

Postenwettlauf

Auch die Wahl des Präsidenten beziehungsweise der Präsidentin der Kommission steht gleich in der ersten Plenarwoche an. Ob diesmal das „Spitzenkandidatenprinzip“ durchschlägt und die Siegerfraktion ihren Kandidaten oder ihre Kandidatin durchsetzen kann, ist offen: Die 27 Staats- und Regierungschefs schlagen – mit qualifizierter Mehrheit – den Kandidaten oder die Kandidatin vor, entschieden wird letztlich jedoch durch eine absolute Mehrheit der Europaabgeordneten. Es sind also 361 Stimmen erforderlich – was nicht ohne politisches Gerangel abgehen wird.

Wird es auch diesmal so sein, dass die Sozialdemokraten, die Christdemokraten und die Liberalen als die drei großen Europaparteien genug Abgeordnete haben werden, um einen Kompromisskandidaten oder eine -kandidatin aus ihren Reihen durchzubringen? Wie hoch wird der politische Preis sein? All dies hängt von der Wahlbeteiligung und vom Ergebnis der Europawahl ab. Der Widerspruch zwischen den nationalen Themen der EU-Wahlen in den Mitgliedstaaten und den europapolitisch relevanten Auswirkungen ist eklatant.

Und während im Europaparlament selbst der Wettlauf um einflussreiche Posten in den Ausschüssen und Delegationen in vollem Gange ist, bildet die neue (und vermutlich alte) Kommissionschefin ihr Team neu. Ganz freie Hand hat sie dabei nicht: die einzelnen Mitglieder des Kollegiums werden sich alsbald beinharten Hearings der EU-Parlamentarier zu stellen haben, und es ist in der Vergangenheit bereits geschehen, dass manche von ihnen für Kommissarsposten vom Europaparlament abgelehnt wurden. Dem italienischen Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni wäre dies 2019 um ein Haar passiert, und Sylvie Goulard, französische Kandidatin Emmanuel Macrons als Binnenmarktskommissarin, hat es 2019 tatsächlich erwischt: Sie wurde vom zuständigen Ausschuss nach der Anhörung als Mitglied der Kommission abgelehnt.


Daten und Fakten zur EU-Wahl

Die kommende Wahl zum 10. Europäischen Parlament wird vom 6. bis 9. Juni 2024 stattfinden. In Österreich findet die Wahl am 9. Juni statt.

Warum dieser Termin?

Europawahlen haben sich an den Referenzzeitraum der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament (7. bis 10. Juni 1979) zu halten. Seitdem finden die Europawahlen immer in der letzten Woche der fünfjährigen Legislaturperiode statt, also Ende Mai bis Mitte Juni.

Warum wählt man 720 Abgeordnete? 

Laut Vertrag über die Europäische Union ist die Zahl der Abgeordneten (Member of the European Parliament) mit 751 gedeckelt (750 plus Präsident/in). So viele wurden bei der vergangenen Europawahl Mai 2019 auch gewählt. Mit dem Brexit im Jänner 2020 fielen aber 79 Abgeordnete weg, weshalb man sich auf die neue Zahl von 720 MEPs einigte.

Was heißt degressive Proportionalität?

Die Zahl der Abgeordneten pro Mitgliedstaat wurden nach dem Prinzip degressiver Proportionalität festgelegt. Das heißt, kleinere Länder haben relativ mehr Abgeordnete als größere: Deutschland etwa 96 und Österreich 20. Arithmetisch betrachtet müsste Deutschland an die 200 Abgeordnete stellen, 96 ist allerdings die vom EU-Vertrag festgelegte Höchstzahl pro Staat und wird nur von Deutschland erreicht. Die Mindestzahl allerdings beträgt sechs – wie Malta, Luxemburg und Zypern.

Was machen Straßburg und Brüssel?

Sitz des Europäischen Parlaments ist Straßburg, Arbeitsorte sind auch Luxemburg und Brüssel. In Luxemburg sind nur noch Verwaltungsabteilungen untergebracht, die politische Arbeit teilen sich Brüssel, wo sich die Ausschuss-Arbeit konzentriert und die meisten Fraktionsmeetings stattfinden, und Straßburg, wo die monatlichen Plenartagungen abgehalten werden.

Welche Fraktionen gibt es?

Die Zugehörigkeit zu einer Fraktion ist entscheidend für die politische Arbeit im Europäischen Parlament: Redezeiten, Zuteilung von Berichten, Stellungnahmen zu legislativen Beschlüssen werden über die Fraktionsschiene vergeben. Um eine Fraktion zu bilden, bedarf es mindestens 25 Mitglieder aus mindestens sieben Mitgliedstaaten. Derzeit gibt es sieben übernationale politischen Fraktionen: Christdemokraten (EVP), Sozialdemokraten (S&D), Liberale (Renew Europe), die Grünen/EFA und die Linke. Rechtsextrem und die Europäische Union in der heutigen Form ablehnend ist die Fraktion Identität und Demokratie (ID), dazu zählen u.a. FPÖ, Lega, Vlaams Block und Le Pen-Gruppe. Die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (ECR) geben sich als europakritisch und werden von der polnischen PiS, Vox aus Spanien und den Fratelli d’Italia von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni getragen. In der Gruppe der Non-Inscrits (NI) versammeln sich die Fraktionslosen.

Fraktionen im EU-Palament:
EVP (176), S&D (141), Renew Europe (102), Grüne/EFA (72), ECR (68), ID (59), Fraktionslose (49)
Stand: 20.2.2024.

Der Widerspruch zwischen den nationalen Themen der EU-Wahlen in den Mitgliedstaaten und den europapolitisch relevanten Auswirkungen ist eklatant. ©CC-BY-4.0/European Union 2019/EP
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