Im Februar 2000 stand der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, Ariel Muzicant, gemeinsam mit Oppositionspolitikern und kritischen Intellektuellen auf dem Wiener Heldenplatz und attackierte die neue ÖVP-FPÖ-Koalition als „Schande für Österreich.“
Von Eric Frey
Bei mehreren öffentlichen Auftritten warnte er vor einer antisemitischen Gewaltwelle auf den Straßen Wiens und stellte die Zukunft jüdischen Lebens in Österreich in Frage. Im Mai 2003 ging Muzicant noch weiter: Mit eindringlichen Worten beschwor er den bevorstehenden finanziellen Kollaps der Gemeinde und machte dafür Bundeskanzler Wolfgang Schüssel verantwortlich, weil dieser die Forderungen der IKG nach einer angemessenen NS-Restitution und höheren Subventionen zurückwies. Schüssel, so die Botschaft, betreibe die „Liquidation“ des jüdischen Lebens in Wien – eine Wortwahl mit ganz bewussten historischen Assoziationen. Doch im Frühjahr 2005 ist alles anders: Muzicant verkündet im ORF, es habe sich in der Einstellung der Österreicher zu den Juden „sehr vieles zum Positiven gewandt“, die IKG und die Regierung verkünden eine Einigung, durch die alle finanziellen Streitigkeiten beendet werden, Nationalratspräsident Andreas Khol spricht vom „schönsten Tag des Jahres“, weil die „schwelenden Unstimmigkeiten mit unseren jüdischen Mitbürgern“ beigelegt worden seien, und Muzicant erklärt zufrieden, die Existenz der IKG sei nun finanziell gesichert. Was ist inzwischen passiert? Hat sich die schwarz-blaue Regierung so grundlegend gewandelt, dass alle Bedenken von damals beiseite geschoben werden können? Hat Wolfgang Schüssel angesichts des internationalen Drucks Muzicants ambitionierte Forderungen erfüllt? Als einer der wenigen in der Gemeinde, der vor zwei Jahren öffentlich die Kampfansage der IKG an die Regierung als kontraproduktiv und unangemessen kritisiert hat und dafür von dem damals nach Wien geeilten Vizepräsidenten des European Jewish Congress, Michel Friedman, wüst beschimpft worden ist, scheint mir die Antwort klar: Nicht die Republik, sondern die Kultusgemeinde hat sich bewegt. Sie hat das Scheitern der Konfrontationsstrategie eingestanden und den Weg jener stillen Diplomatie eingeschlagen, der ihr schon früher offen gestanden wäre. Das Ergebnis ist finanziell bescheiden – und dennoch die beste aller Möglichkeiten. Die 18,2 Millionen Euro, mit der sich die IKG nun zufrieden gibt, stellen nur einen Bruchteil ihrer einstigen Forderungen dar. Diese bestanden aus einem zusätzlichen staatlichen Zuschuss von 2,7 Millionen Euro im Jahr und einer Abfindung für die durch den NS-Terror zerstörte Infrastruktur der Vorkriegsgemeinde, deren Wert auf mehrere hundert Millionen Euro geschätzt wurde. Für den jetzt erstrittenen Betrag wären die hysterischen Beschuldigungen von 2003 nicht nötig gewesen. Zugegeben, die IKG hat sich in einer Prinzipfrage durchgesetzt: Das zusätzliche Geld kommt nicht aus dem Entschädigungsfonds und wird dadurch anderen jüdischen Opfern nicht weggenommen. Aber auch die Regierung hat ein ihr wichtiges Prinzip verteidigt: Die Vereinbarung bewegt sich weiterhin im Rahmen des Washingtoner Abkommens, das Muzicant bisher abgelehnt hat, und erfordert keine zusätzlichen staatlichen Mittel. Beide Seiten konnten ihr Gesicht wahren, weil der von der österreichischen Wirtschaft großzügig dotierte Zwangsarbeiterfonds in einem geringeren Ausmaß als erwartet in Anspruch genommen wurde – ein Ausweg, der sich wohl nicht ganz zufällig eröffnet hat. Im Gegenzug wird die IKG nun eines ihrer fragwürdigsten taktischen Manöver beenden, nämlich die Unterstützung des „Whiteman“-Verfahrens vor einem New Yorker Gericht, das der von der Bundesregierung ultimativ geforderten Rechtssicherheit bisher im Wege stand. Was als Druckmittel gegen Schüssel gedacht war, erwies sich immer deutlicher als Bumerang: Der schwarze Peter für die verzögerten Auszahlungen wanderte von der Republik, die aus administrativen Gründen dazu bisher noch gar nicht in der Lage wäre, zur Kultusgemeinde, die so in den Geruch kam, sie nehme Holocaust-Überlebende für ihre eigenen finanziellen Interessen in eine Art von Geiselhaft. Der moralische Schaden durch die „Whiteman“-Klage war nur eine der Schwachstellen in Muzicants damaligem Schlachtplan. Noch schwerer wog die fehlende internationale Solidarität mit seiner Sache. Die Regierung Schüssel hatte durch das Washingtoner Abkommen in Bezug auf Restitution mehr als ihre Vorgänger getan; das Verständnis für die Obstruktionspolitik der IKG war daher in Washington und anderswo gering. Dass Muzicants prominentester Verbündeter Michel Friedman nur Wochen nach seinen Wiener Auftritten in der „Paolo Pinkel“-Affäre seinen Job und seinen guten Ruf verlor, war ein weiterer Schlag für die IKG. Schüssel, der die Beziehungen mit Muzicant nach dessen politischen Attacken auf Eis legte und den Dialog verweigerte, konnte die Sache in bewährter Manier aussitzen. Noch billiger als bei der Entschädigung kam der Kanzler in Fragen der politischen Moral weg. Seine Regierung ist trotz der Namensänderung eines Koalitionspartners die gleiche geblieben und hat in ihrer Sensibilität bezüglich jüdischer und NS-bezogener Fragen sogar noch abgebaut. Die skandalösen Ansagen von Siegfried Kampl im Bundesrat können noch als Produkt des eigenartigen Kärntner orange-braunen Biotops abgetan werden, nicht aber die Tatsache, dass es Schüssel in seinen Reden zum „Gedankenjahr“ kaum der Mühe wert befunden hat, auf die Tragödie des österreichischen Judentums einzugehen, sondern alle Opfer des Kriegs gleichsetzte. Aus jüdischer Sicht ist der selbstgefällige Jubiläumskanzler des Jahres 2005 ein deutlicher Rückschritt gegenüber dem um Sympathie bemühten Wendekanzler des Jahres 2000. Dennoch wurde Muzicant richtig beraten, als er beschloss, mit dieser Regierung die Versöhnung zu suchen. Es steht jedem jüdischen und nichtjüdischen Bürger frei, sich seine – noch so schlechte – Meinung über die Koalitionsparteien und ihre Spitzenvertreter zu bilden und diese öffentlich kundzutun. Der Präsident der jüdischen Gemeinde aber hat eine andere Aufgabe: Er muss das Beste für seine Gemeinde tun. Und es kann nicht im Interesse der österreichischen Juden sein, in Fundamentalopposition zur gewählten Regierung des Landes zu stehen. Niemand ist heute dazu gezwungen, in Österreich zu leben. Wer sich für dieses Land als Wohnort entschieden hat – und alle über 18-Jährigen haben dies -, der sucht hier Lebensqualität und Sicherheit und nicht einen ständigen aufreibenden Kampf gegen angebliche Bedrohungen. Krone, Kampl, Gudenus, Haider – sie sind alle Teil der Realität unserer schwierigen Existenz auf dem Boden der Shoah. Aber sie sind nicht die ganze Realität. In einem Land, in dem Juden vor Verfolgung und Diskriminierung so gut geschützt sind wie in Österreich, ist ein Handschlag kein Kniefall, sondern ein entscheidender Schritt zu einem neuen jüdischen Selbstbewusstsein. Die Einigung zwischen Kultusgemeinde und Regierung ist deshalb weit mehr wert als 18 Millionen Euro. Sie verbessert nicht nur das Angebot jüdischer Einrichtungen, sondern auch die psychologischen Bedingungen für das jüdische Leben an diesem Ort. Muzicant hat den Heldenplatz hinter sich gelassen und nach Jahren der Irrwege das Richtige getan.