Die Wienerin Gertrud Jellinek entkam nur knapp, via Shanghai, dem Holocaust. Gerty ist eine von 200.000, die von den Nazis vertrieben wurden. Und ihre Story ist so einzigartig wie die Frau, die sie jede Woche im Sydney Jewish Museum erzählt.
Von Fritz Neumann (Text) und Petra Stuiber (Fotos)
Wer im Jüdischen Museum von Sydney nach Zeitzeugen fragt, muss nicht lange suchen: „Ask for Gerty“, lautet die freundliche Auskunft an der Rezeption. Da hört man schon ihre Stimme: hell, deutlich, mit vertraut klingendem Akzent und so, als hielte da eine frisch zugewanderte Sydneysiderin gerade ihr wöchentliches Plauderstündchen. Geht man der Stimme nach, steht man vor einer zierlich-eleganten alten Dame mit fröhlichen Augen, die in schockierendem Gegensatz zu dem Entsetzlichen stehen, das „Gerty“ einer Schulklasse gerade erzählt. Die 82-jährige Gertrud Jellinek, Zeitzeugin des Holocaust, erklärt den jungen Australiern um sie herum, was damals geschah. Sie macht das unbezahlt einmal pro Woche, weil sie es für wichtig hält, „daran“ zu erinnern. Immer und immer wieder. Und dann erzählt sie zwei NURedakteuren noch einmal ihre Geschichte aus dem fernen, fremden Land Österreich, in dem die kleine Gertrud am 20. Dezember 1925 als Gertrud Altar, Tochter jüdischer Eltern und überzeugter Österreicher, geboren wurde. Es sei eine „harmlose, unbeschwerte Kindheit“ gewesen, erzählt Gerty. Sie machte sich keine Gedanken darüber, dass sie mit ihrer Mutter in den Tempel ging, während andere Kinder mit ihren Eltern in die Kirche gingen – in ihrem Bekanntenkreis gab es viele Religionen und überhaupt sei das damals als „nicht so wichtig“ angesehen worden.
Das war der große Irrtum – denn nach dem 13. März 1938 war es dann plötzlich doch ganz wichtig, dass die kleine Gerti mit ihrer Mama in den Tempel ging. Gertis Vater verlor seine Stellung und fand keine neue, die Kinder mussten „ihre“ Schule verlassen und in eine Schule für jüdische Kinder gehen, sie durften nicht mehr im Park spielen und nicht unbeaufsichtigt außer Haus gehen.
Doch damit nicht genug – der Schock saß auch tief, als Gerti eines Tages im Vorzimmer ihrer Wohnung dem langjährigen Untermieter ihrer Eltern gegenüberstand – in SSUNiform. Auch seine Haltung war anders – irgendwie größer, herrischer, überheblicher. Als am Morgen des 10. November 1938 vier SS-Männer in die Wohnung der Altars kamen, war es auch jener Mann, der ihnen die Tür öffnete. Die Männer holten Gertis Vater buchstäblich aus dem Bett und verschleppten ihn. Zehn Tage lang wussten die Altars nicht, ob der Vater noch lebte – dann kam er wieder, ein schweigsamer, gebrochener Mann. Er sagte niemandem, was sie mit ihm gemacht hatten. „Er war nie mehr derselbe“, sagt Gerty Jellinek in Sydney – und ihre Augen verschwimmen in Tränen.
Doch viel Zeit blieb der Familie nicht. Es musste etwas geschehen, sie mussten hier weg. Die Mutter, eine zupackende Frau, pilgerte jeden Tag zu einer jüdischen Hilfsorganisation und fragte bang nach Visa für „welches Ausland auch immer“. Jeden Tag die entmutigende Auskunft: kein Visum. „Die ganze Welt wollte uns nicht.“ Als sie schon einigermaßen entmutigt waren, hörten die Altars erstmals von Shanghai, der Hafenstadt im Fernen Osten. Shanghai stand damals zwar unter der Kontrolle der Chinesen, doch die Stadt galt als international, der politische Einfluss von Amerika, England und Frankreich machte sie zur Boomtown und Stadt vieler Emigrantenträume. Besonders verlockend war, dass man kein Visum brauchte, um dort an Land zu gehen – lediglich einen gültigen Pass und Schiffskarten. Die großen Hilfsorganisationen kauften ganze Kontingente an Schiffskarten auf großen Ozeankreuzern, wer schnell genug war oder jemanden kannte, konnte ein paar Karten ergattern. Gertis Mutter war schnell genug, sie gab ihre gesamten Ersparnisse und bekam dafür vier Fahrkarten in die Freiheit. Am 12. September 1939 gingen die Altars in Shanghai an Land. Der erste Eindruck war deprimierend: Shanghai war laut, vulgär, drekkig und fremd in jeder Hinsicht.
Wie alle Immigranten wurden Gerti und ihre Familie erst mal in ein Massenlager gepfercht und keineswegs mit dem Nötigsten versorgt. Nach ein paar Wochen fand die Mutter – auch hier in der Fremde die Tatkraft in Person – ein winziges Zimmer in einem der schlechteren Viertel der Stadt, wo die Familie fortan schlief, kochte, lebte. Die 14-jährige Gerti beschloss, die Schule zu schmeißen. Schließlich gab es Wichtigeres zu tun: Englisch lernen zum Beispiel – denn das war die Sprache, in der sich alle Emigranten in Shanghai am besten verständigten. Oder ein paar Brocken Chinesisch – das konnte sie in ihrem neuen Beruf als Verkäuferin gut gebrauchen. Die Auswanderer waren zwar nicht anerkannt von den herrschenden Chinesen (ab 1941 den Japanern), aber sie wurden in Ruhe gelassen. Das änderte sich, als 1941 Oberst Josef Meisinger, ein ranghoher Nazi, von Bord eines Kriegsschiffes ging. Er erklärte den japanischen Verbündeten die „deutsche Endlösung“ und ermunterte sie, doch selbst auch Gasöfen zu bauen und das „Auswandererproblem“ auf diese Weise zu lösen. „Wie in einem Käfig, ohne Ausweg“, habe sie sich damals gefühlt, erzählt Gerty, alle Emigranten zitterten, was nun mit ihnen geschehen werde. Es geschah – vergleichsweise – wenig: Zwar mussten die Emigranten fortan in einem Ghetto leben, doch sie wurden weiterhin in Ruhe gelassen. Gerty: „Weder die Chinesen noch die Japaner verstanden die Rassenpolitik der Deutschen.
Die wussten überhaupt nicht, was Meisinger von ihnen wollte.“ Das Leben in Shanghai ging – wenn auch unter erschwerten Bedingungen – weiter. Gerty war mittlerweile eine junge Frau, und sie hatte nur Augen für einen aus ihrer alten Heimat: Willi Jellinek, ein schneidiger Sportler. „Unsere Hochzeit hat sehr viel Geld gekostet, es sollte alles perfekt sein. Er hat Schulden gemacht, um mich wie eine Prinzessin aussehen zu lassen.“ 1949 wanderte die Familie nach Australien aus – Willi hatte dort Bekannte, die dem jungen Paar weiterhalfen. 200.000 europäische „displaced persons“ fanden zwischen 1947 und 1950 eine neue Heimat „down under“. Damit war Australien jene Nation, die, nach den USA, Kanada und Israel, die viertgrößte Anzahl an von den Nazis Vertriebenen aufnahm. Gerty ist diese Tatsache wohl bewusst, und ihre Dankbarkeit gegenüber ihrer neuen Heimat hat etwas Eisernes, Unerschütterliches.
Kein Wunder, denn der Rest von Gertys Geschichte klingt, zumindest aus ihrem Mund, nach einem fortgesetzten Happy End. Ihr Mann habe sofort eine gute Stellung bekommen, sie kauften ein Haus und kamen zu bescheidenem Wohlstand. Ihre einzige Tochter, Irene, lernte von Mutter Altar fließend Deutsch und lehrt seit vielen Jahren „Deutsch“ als Schulfach an einem Gymnasium in Sydney. Gerty freut sich über ihre beiden Enkel und ist eine zufriedene Frau. Sogar mit ihrer alten Heimat Österreich hat sie ihren Frieden gemacht. Dreimal war sie seit Kriegsende in Wien, sie hält Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel für einen „anständigen Mann“, weil er immerhin veranlasst habe, dass auch sie eine (bescheidene) Entschädigung für erlittenes Leid erhielt. Und sie schrieb sogar einen Brief mit ihrer Geschichte an fünf junge Wiener Schülerinnen, im Rahmen der Aktion „A Letter to the Stars“. „Ich liebe die Jugend“, sagt Gerty, „sie wird dafür sorgen, dass das, was mir passiert ist, nie wieder passiert.“ Nur mit den älteren Leuten in Wien habe sie so ihre Probleme: „Wenn ich in ihre Gesichter sehe, denke ich automatisch: Warst du auch dabei?“