In den 1960er Jahren als jüdischer Bub in Österreich aufzuwachsen, war durchaus eine Herausforderung. Lieber unauffällig bleiben, lautete das Motto. Erinnerungen an eine assimilierte Kindheit.
Beliebt in Interviews ist häufig die Frage nach der Vervollständigung des Satzes „Meine Mutter hat immer gesagt: …“. In meinem Fall wäre die Antwort: „Du wirst einmal weder da noch dort dazugehören.“ Mit „da“ war die jüdische Gemeinde, mit „dort“ der Rest der Gesellschaft gemeint (oder umgekehrt?), wobei der Satz insgesamt die Bedrohung einer Vereinsamung vermittelte, einer Ausgrenzung als Österreicher durch Österreicher. Doch wie kam es zu dieser Äußerung meiner Mutter, die auch mein Vater durchaus bekräftigte?
Es begann in der Volksschule, die ich in unserem Wohnort Klosterneuburg besuchte, in den Sechzigern noch eher dem ländlichen Raum zuzuordnen und zudem dem Einfluss des Chorherrenstiftes ausgesetzt – was durch die Präsenz von einschlägigen kirchlichen Vereinen und Aktivitäten zu bemerken war. Ich war noch nicht einmal sechs Jahre alt und musste die Religionsstunde schon in einem anderen Klassenzimmer verbringen, wenngleich gemeinsam mit ein paar evangelischen Kindern, die mich für „ihresgleichen“ hielten. Doch um „meinesgleichen“ zu begegnen, sollte ich nach Wien zu einem eigenen Religionsunterricht der Kultusgemeinde geschippert werden, der zu meinem unsäglichen Bedauern justament zeitgleich mit der wöchentlichen Kasperlaufführung in der Urania stattfand, welche – wäre es nach mir gegangen – eindeutig Priorität gehabt hätte.
Eindringlicher Einzelunterricht
Ich erinnere mich gut an die erste Religionsstunde. Ich war interessanterweise der Einzige und bekam sozusagen Privatunterricht von einem mir äußerst unsympathischen Mann mit merkwürdigem Akzent. Aufgrund einer auf Geheiß des Lehrers – oder was auch immer er war – angefertigten Zeichnung der Arche Noah, welcher ich die österreichische Flagge verpasste, und auch wegen einiger widersprüchlicher Aussagen meinerseits, an die ich mich im Detail nicht mehr so genau erinnern kann oder will, bekam der Herr Lehrer Zweifel, ob ich überhaupt Jude sei, was er in einer Frage auch formulierte. Ich sagte, ich sei nicht Jude (sondern gemäß meiner Geburtsurkunde mosaisch, was ich dachte, aber nicht erwähnte). So kam es zu einer Nachfrage des Lehrers an meine Eltern, ob meine Teilnahme am jüdischen Religionsunterricht vielleicht ein peinlicher Irrtum sein könnte. Selbstverständlich sei ich Jude, gaben meine entsetzten Eltern zurück.
Darauf folgte meine erste eindringliche Lektion im Einzelunterricht. Ich musste auf einen linierten A4-Bogen so oft „Ich bin Jude, ich bin Jude, ich bin …“ schreiben, bis dieser gefüllt war. Aus heutiger Sicht wohl eine pädagogisch bedenkliche Aufgabe eines mäßig begabten Lehrers. Aber immerhin wirksam, ich habe bis heute nicht vergessen, was ich bin, wer weiß, wie mein Leben sonst verlaufen wäre. Am Ende hätte ich gar ein Dasein als langweiliger Agnostiker gefristet, den Namen des Herrn ohne fehlenden Buchstaben schreiben oder sogar Israel kritisieren dürfen. Auch käme ich ohne ökumenisches Weihnukka-Fest im Dezember aus und dürfte keine antisemitischen Bemerkungen machen. (Anmerkung: Als Jude darf man durchaus gelegentlich Antisemit sein, aber Bedenken gegenüber israelischer Politik sind zumindest hierzulande ein No-go, womit sich linke Juden, wie etwa André Heller oder allen voran Bruno Kreisky in der Gemeinde seinerzeit nicht gerade beliebt gemacht haben.) Letztlich liegt der Verdacht nahe, dass aufgrund des Zwischenfalles im Rahmen meiner ersten Religionsstunde Jahre später der Begriff „mosaisch“ gegen „israelitisch“ ausgetauscht wurde, was meiner Ansicht nach allerdings nicht zu einem gesteigerten Identitätsbewusstsein beigetragen hat. Manchmal wurde mir die Frage gestellt – und das nicht nur von bildungsfernen Menschen –, ob ich aus Israel komme oder wann wir nach Österreich eingewandert seien. Vielleicht hätte ich antworten sollen, dass wir uns lange gewehrt hätten und erst in jüngster Geschichte aus dem heiligen Land vertrieben wurden.
Zurück zur Schulzeit. Um der bereits angesprochenen Vereinsamung entgegenzuwirken und Kontakt zu Glaubensgenossen (?) zu vermitteln, nahmen mich meine Eltern zu den wöchentlichen Schwimmabenden des jüdischen Sportklubs Hakoah mit, dessen Präsident mein Vater war und der ein wesentliches Element der jüdischen Identität meiner Familie darstellte. Die Sache wurde durchaus ernst genommen, ich nahm in weiterer Folge an Schwimmbewerben teil, nur um festzustellen, dass dies nicht der Sport war, dem meine Leidenschaft gelten sollte. Unser Trainer klärte mich des Öfteren nicht ohne Anlass auf, dass es sich bei diesem Sport nicht um Baden, sondern um Schwimmen handle.
Lieber Tennis als Chochmezzen
Ein weiterer missglückter Versuch meiner Eltern, mir ein Stück jüdischer Identität nahezubringen, bestand darin, mir den Haschomer Hatzair zu empfehlen, eine Jugendorganisation etwa wie koschere Pfadfinder. Tatsächlich kam mir der Schomer aber nicht ganz koscher vor, eine für mich fremde Welt, der ich mich als eher schüchterner Jugendlicher nicht verbunden fühlte. Da wurde „gechochmezzt und geteigezzt“ bis zum Abwinken, ich hatte Komplexe, weil ich dachte, die wissen über alles Bescheid, wissen mit 14 schon, wie die Welt funktioniert oder warum nicht. Und ich nahm ihnen das unkritisch ab. Sport war dort eher auch kein Thema, meine Eltern brachten mich mittlerweile zu einem (nichtjüdischen) Tennisverein, bei welchem sie selbst spielten, denn die Hakoah hatte damals noch keine Tennissektion. Erst dort fühlte ich mich akzeptiert, jedoch nicht wegen meiner Herkunft, sondern – wie es mir heute logischer erscheint – wegen meiner ersten sportlichen Erfolge und als anerkannter Trainingspartner beziehungsweise respektierter Gegner. Erst in der späteren Pubertät gelang es mir auf diese Weise, meine Unsicherheit abzulegen.
Gojim Naches
Erst später begann ich meine Eltern in ihren Ängsten zu verstehen. Meine Mutter, die als Kind schon kontaktfreudig und gesellschaftlich integriert war, durfte 1938 im Alter von 14 Jahren von einem auf den anderen Tag ihre beste Freundin nicht mehr besuchen, musste die Schule wechseln. Sie bemerkte schon vor dem „Anschluss“, dass „etwas mit ihr nicht stimmte“, wie sie es mit eigenen Worten ausdrückte. Wie schlimm muss es für ein Kind sein, im Heimatland nur aufgrund seiner Abstammung so ausgegrenzt zu werden? Eine Abstammung, die es zuvor gar nicht wahrnahm, weil man es vielleicht seitens der Eltern mit dem Begehen der jüdischen Feiertage nicht so genau genommen hatte, oder weil das Kind eine „normale“ Schule besuchte und dort seinen Freundeskreis pflegte?
Ich denke, dass diese traumatischen Erfahrungen und Ängste an die nächste Generation mehr oder weniger bewusst weitergegeben wurden. Manchmal auch in Form eines übersteigerten Identitätsbewusstseins, indem man sich des Terminus des „auserwählten Volkes“ bediente und so den jüdischen Nachkommen vermittelte, sich nicht anzubiedern an die „Gojim“ (abfälliger Ausdruck für Nichtjuden), sich nicht an deren Traditionen und Vergnügungen („Gojim Naches“) anzupassen. In unserer Familie ging es aber eher um das „Ducken“. Lieber unauffällig bleiben, schien das Motto zu lauten, um keine antisemitischen Attacken zu provozieren. Wohl nicht zuletzt deswegen blieb ich von diesen weitgehend verschont. Und wenn dann doch jemand in meiner Gegenwart einen Judenwitz der zynischeren Art erzählte oder sich über die jüdische Weltverschwörung alterierte, ohne über meine Herkunft Bescheid zu wissen oder diese „vergessen“ hatte, kam es oft zur wohlbekannten Entschuldigung: „Ja, wenn alle so wären wie du.“ G’tt sei Dank sind sie es nicht.
Outen statt Opferrolle
Es mag den positiven Entwicklungen der Gesellschaft der letzten Jahrzehnte, aber auch meiner persönlichen geschuldet sein, dass es hier zu einem Paradigmenwechsel gekommen zu sein scheint. Nun ist es eher „schick“, Jude zu sein, es regt Interesse, rechte Kreise solidarisieren sich regelrecht mit uns im Kampf gegen die Weltherrschaft – diesmal – des Islam. Die Damen geben sich dem Mythos hin, wir seien die besseren Liebhaber, wofür mir allerdings keine wissenschaftlichen Expertisen bekannt sind. Wie auch immer, für mich besteht kaum noch Unbehagen, mich als Jude zu outen, und ich mache damit durchaus gute Erfahrungen. Ich bin Kritiker jener konservativen Kreise in der Gemeinde, die hinter jedem Eck Antisemitismus orten und aus der Opferrolle heraus versuchen, eine Besserstellung in so manchen Belangen zu erreichen. Ich treffe Juden, die mir in dieser Ansicht voll zustimmen. Zu denen sage ich dann: „Ja, wenn alle so wären wie du.“