Seit Jänner 2025 ist er der neue Generaldirektor des Kunsthistorischen Museums: Jonathan Fine, der aus einer jüdischen Familie in New York stammt. Der promovierte Kunsthistoriker studierte Geschichte und Literaturwissenschaften, hat ein Jusstudium abgeschlossen und als Anwalt für Menschenrechte gearbeitet. Danielle Spera und Simon Mraz haben mit Jonathan Fine über Vergangenheit und Zukunft gesprochen.
Von Danielle Spera und Simon Mraz
Jonathan Fine: Man hört als Kind viel von Europa, Wien, Deutschland, Polen, Osteuropa. Das ruft bestimmt Assoziationen hervor. Man hat natürlich keinen direkten Bezug, es sind nur Bezüge, die über die Geschichte, Verständnisse und Missverständnisse geprägt sind. Das fand ich im Prozess des Aufwachsens besonders interessant. Als ich mit 13 zum ersten Mal nach Europa kam, da fingen diese Orte an real zu werden. Das war eine neue Erfahrung für mich.
NU: Amerikanisch-jüdische Familien sind doch meistens sehr verwurzelt mit Europa.
Jonathan Fine: Ja, das sind wir auch. Die Familie meiner Mutter ist in mehreren Etappen im 19. Jahrhundert aus Deutschland ausgewandert. Ursprünglich stammt die Familie ihres Vaters aus Frankfurt am Main, sie hießen Schiff. Sie waren verwandt mit den Schiffs in New York, die eine führende Rolle in der deutsch-jüdischen Gesellschaft in New York gespielt haben. Jacob Schiff war ein Bankier und Mäzen, der sehr viel für die jüdische Community in New York getan hat. Eine Residenz der Schiffs ist heute das Jüdische Museum in New York. Wir waren die armen Verwandten von den reichen Schiffs. Die Familie meines Vaters ist im späten 19. Jahrhundert in die USA eingewandert. Sie sind als Hausierer zu Fuß von Stadt zu Stadt. Irgendwann sind sie nach Toronto gekommen, haben sich dort niedergelassen: Mein Urgroßvater hatte zwei Töchter und drei Söhne. Die Söhne haben Medizin studiert und sind Ärzte geworden, aber es war für sie nicht möglich, eine Stelle in Krankenhäusern in Kanada zu finden.
Weil sie Juden waren?
Ja. Deswegen sind sie in die USA ausgewandert und haben sich in unterschiedlichen Städten etabliert, in Cleveland, Seattle und Milwaukee.
Das heißt, Ihre Familie war auch in Kanada mit Antisemitismus konfrontiert, oder?
Sie durften zwar Medizin studieren, aber sie durften dann nicht als praktische Ärzte in Krankenhäusern in Kanada arbeiten. Die Familie ist wegen der antisemitischen Vorurteile, die es damals in Kanada gab, weggegangen. Das heißt quasi eine zweite Migration.
Heute steht man in den USA und in anderen Ländern vor einer ganz neuen Welle des Antisemitismus mit ganz anderen Playern als früher. Wie geht es Ihrer Mutter damit?
Meine Mutter ist 1933 in New York geboren, sie ist jetzt 92. Es ist für sie schwer, die heutigen Ereignisse zu verdauen, denn sie hat das in ihrer Kindheit gesehen. Diese Art des Umgangs miteinander, wo zum ersten Mal seit vielen Jahren der Judenhass wirklich in vielen Bereichen spürbar ist. Mein Neffe hat an einem kleinen College im Nordosten der USA studiert und war dort mit Judenhass konfrontiert. Das ist eine sehr schwierige Sache. Wie gibt man einem jungen Erwachsenen die Sicherheit zu verstehen, dass das nicht sein darf wenn er es trotzdem erlebt und es vermutlich Teil seines Lebens sein wird? Ich denke an Freunde aus der Black Community in den USA, die Diskussionen in der Familie führen, wie man mit Rassismus umgeht, also wie man sich zu verhalten hat, wenn die Polizei kommt, wie man sich bestimmten Situationen entziehen kann und wie man die physische und mentale Sicherheit bewahren kann – in einem Umfeld, das sehr feindlich geprägt ist.
Auch die Kunstszene hat sich in eine bestimmte Richtung entwickelt, wo man das Existenzrecht Israels in Frage stellt, BDS verherrlicht etc. Stichwort Berlinale oder Documenta. Sie kamen in eine Zeit in Europa, in der sich einfach vieles verändert und manches nicht mehr selbstverständlich ist.
Ich glaube, wir leben in einer Zeit der verstärkten Emotionen und wir leben in einer Zeit, wo alles, was wir als Grundlage für öffentliche Diskussionen verstanden haben – das heißt Fakten, Geschichte, Wissenschaft – aus vielen Richtungen in Frage gestellt wird. Das klingt vielleicht philosophisch, aber ich glaube, wir sind in einer Phase, wie sie die Menschheit früher auch durchgemacht hat. Ich denke an die Reformation, ermöglicht und befeuert durch eine neue Form der Kommunikationstechnologie, mit Druckschriften, mit Holzschnitten, die wir heute in Museen als Kunst aufbewahren. Eine Technologie, die im Prinzip eine damals revolutionäre unmittelbare, schnelle Erfahrung mit bestimmten Tatsachen ermöglicht hat. Das hat zu unglaublicher Gewalt geführt. Die Auseinandersetzungen zwischen Protestanten und Katholiken und mit jüdischen Communities dazwischen. Das hat Europa verwüstet. Der 30-jährige Krieg war grausam. Eine ähnliche Entwicklung könnte man auch in den Kriegen im späten 19. und im 20. Jahrhundert sehen.
Sehen Sie diese Gefahr kommen?
Ich glaube, die Gefahr ist, dass wir wieder am Anfang einer solchen Phase stehen, in der neue Technologien und neue Medien, die wir als Menschen noch nicht verdaut haben, unsere Welt prägen. Ich würde es weniger als etwas sehen, dass besonders mit Antisemitismus oder mit Judenhass oder mit Hass gegen Muslime zu tun hat, sondern mit einer neuen technologischen Situation, die uns den unmittelbaren Zugang zu Informationen, richtigen und falschen, und Emotionen ermöglicht, den wir vor zehn oder 15 Jahren nicht hatten, und die auch steuerbar ist, wie es auch in der Reformation war. Daher müssen wir jetzt aufpassen, dass wir nicht wieder in eine solche Falle tappen, dass wir durch diese technologische Möglichkeit wieder vernichtende Gewaltsituationen ermöglichen.
Welche Rolle und welche Aufgabe haben in dieser Situation Museen? Können die Museen etwas beitragen?
Ja, sonst würde ich hier nicht sitzen. Museen sind Orte, die im besten Fall das unmittelbare Erlebnis mit dem menschlichen Schaffen ermöglichen. Es sind Orte, wo man verlangsamt etwas sehen, spüren, erleben darf und darüber reflektieren kann. Und ich hoffe, dass diese Form der Verlangsamung des Erlebnisses auch dazu beitragen kann, dass Menschen ihre eigene Situation besser verstehen können. Aber ganz konkret sind Museen auch Archive der menschlichen Lösungen oder Antworten auf die großen Fragen, die in der Vergangenheit gestellt wurden und die wir heute immer noch stellen. Was ist Krieg? Was bedeutet Frieden? Was geht über das unmittelbare Menschliche hinaus? Was ist Gott? Was ist Liebe? Das sind einige dieser wichtigen, zeitlosen Fragen. Was in diesem riesigen enzyklopädischen Museum, dem Kunsthistorischen Museum, gesammelt wurde, liefert Jahrhunderte an Antworten auf diese Fragen. Ich hoffe, dass man in einem Museum ein Gespür dafür bekommt und vielleicht Gemeinsamkeiten mit Menschen in der Vergangenheit und aus anderen Kulturen findet, die man nicht gefunden hätte, wenn man nicht ins Museum gegangen wäre.
Die neuen Technologien spielen in den Museen auch eine Rolle.
Sie sind ein Verbindungsglied, das wir zwischen uns und die Welt geschaltet haben. Ich sehe ungern, wenn Menschen in Museen auf Handys oder auf Tablets blicken. Ich bin kein Fan von Augmented Reality, weil das für mich eine Ablenkung ist vom Erlebnis des Kunstwerks selbst und der Intention des Künstlers oder der Künstlerin. Es ist, als würde man nur Werbung schauen und nicht einen Film. Oder als ob man nur eine Zusammenfassung eines Romans lesen würde und nicht mehr den Roman selbst.
Es ist immer das Objekt. Das Objekt ist, was man sehen will.
Ich bin Jahrgang 1969 und ich kann mich genau daran erinnern, wie großartig es war, Farbfernsehen zu erleben, im Gegensatz zu schwarz-weiß. Das hat meine Mutter beängstigt, sie hat gesagt, ihr dürft nicht vor dem Fernseher sitzen, geht nach draußen. Unsere Welt spielte sich im Central Park ab oder im Museum. Für meine Familie war es sehr wichtig, dass wir jeden Samstag und jeden Sonntag in ein anderes Museum gegangen sind.
Gab es ein religiöses Leben in Ihrer Familie?
Meine Familie wohnte in der 88th Street auf der Upper West Side in Manhattan. Am Wochenende gingen wir in die Hebrew School, das mochte ich nicht wirklich. Ich glaube, das teile ich mit sehr vielen anderen Kindern, die auch den Religionsunterricht nicht mochten. Das war nicht der große Renner. Es war spannender zu fragen, was machen wir danach? In welches Museum gehen wir.
Hat Tradition eine Rolle gespielt, wurden die Feiertage begangen?
Meine Großmutter starb, als meine Mutter noch sehr klein war. Ihr Vater hat danach eine katholische Frau geheiratet. Die Familie war gespalten, daher war ihre Kindheit geprägt von Diskussionen innerhalb der Familie, wie sie erzogen werden sollte. Meine Mutter hatte daher immer einen ganz besonderen Zugang zum Judentum, aber auch ein sehr offenes Verständnis für das Katholische. In New York, in den 1970er Jahren, wo wir aufgewachsen sind, war alles durchmischt. In unserer Nachbarschaft haben sich alle Bewohner zu einer Community zusammengefunden. Juden, Muslime, Katholiken, Protestanten, Schwule, Afroamerikaner, Menschen aus Mittelamerika, aus der ganzen Welt. Und wir haben alle gemeinsam in dieser Nachbarschaft gelebt und gemeinsam gefeiert. Irgendwann habe ich meine Mutter gefragt: Was sind wir? Und sie hat gesagt, wir sind jüdisch. Ich fand es ein bisschen traurig, dass ich dann eine Richtung zu gehen hatte, und ich sah nicht mehr alle Möglichkeiten als offen an.
Wie war das Ankommen in Deutschland und in Österreich? Abgesehen von der historischen Belastung herrscht hier ein anderer Mindset als in den USA vor. Das muss ja eine große Umstellung bedeutet haben?
Ich empfinde Österreich offener als Deutschland. Es gibt mehr Spuren der Vergangenheit, die hier selbstverständlich sind. Ich habe lange in Berlin gelebt, doch Berlin ist nicht typisch für Deutschland.
Gerade Deutschland hat sich aber sehr früh mit der Verantwortung in der Zeit des Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Das hat in Österreich wesentlich länger gedauert. Bis zur Waldheim-Affäre war alles hier verdeckt und verdrängt. Wenn man Berlin betrachtet, empfinde ich das fast wie ein Freiluftmuseum, weil man sich auch im Stadtraum mit der Vergangenheit auseinandersetzt.
Ja, das stimmt, aber mir kommt vor, dass Jüdischsein in Deutschland etwas Fremdes ist. In Deutschland scheint es mir kaum möglich, jüdisch und deutsch zu sein. Ich habe mehrfach versucht, meine Familiengeschichte mit Freunden dort zu besprechen. Sie meinten, ihr wart jüdisch. Damit meinten sie, glaube ich, dass die Familie meiner Mutter, trotz langer Geschichte in Frankfurt, nicht deutsch war. Diesen Eindruck habe ich in Österreich weniger. In Österreich lerne ich oft Menschen aus gemischten Familien kennen, die österreichisch und selbstverständlich auch jüdisch sind. Das hat es für mich in Deutschland kaum gegeben.
In Deutschland ist heute der „neue“ Antisemitismus stark spürbar, z. B. in der Kunstszene. Machen Sie sich darüber Gedanken?
Ich schaue mit großer Sorge auf bestimmte Einrichtungen in der Kunstszene und an den Universitäten, wo es weniger möglich wird, frei zu denken und wo ich weniger Toleranz für die Komplexität des menschlichen Lebens spüre. Alle Menschen, egal welcher Religion, welcher Nationalität, welcher Herkunft, welchen Alters leben in Grauzonen. Wir können als Menschen nur dann ein volles und erfülltes Leben leben, wenn wir die Widersprüche in uns und um uns zu einem gewissen Teil akzeptieren können. Und im Moment scheint es mir, auch in der zeitgenössischen Kunstszene, wenig Platz für Widersprüche zu geben. Das macht für mich vieles, was produziert wird, weniger interessant. Für mich ist das menschliche Leben etwas Wunderbares, etwas Fragiles, was sich ständig mit Widersprüchen auseinandersetzen muss. Ich glaube, wir schaffen es nicht bis zum reifen Alter in diesem Leben, wenn wir nicht täglich unterschiedliche Gedanken haben.
Sie gehen mit einem sehr positiven Ansatz an Ihre neue Aufgabe heran.
Ich glaube, das Kunsthistorische Museum muss für die unterschiedlichen Zugänge, die man zur alten Kunst finden kann, offen sein. Ich glaube, dieses Haus muss unbedingt physisch zugänglicher werden. Derzeit ist es definitiv nicht barrierefrei und das muss verbessert werden. Deshalb bauen wir ein neues barrierefreies Eingangsfoyer, neue Lifte und bessere Zugänge. Und wir müssen wieder dorthin kommen, wo die Exzellenz dieser Sammlungen, die Exzellenz der Wissenschaft und der Forschung, die hier stattfindet, wieder im Vordergrund steht und gesehen wird, damit wir wieder in einem Atemzug mit unseren Peers, den anderen großen Museen der Welt genannt werden, denn das Kunsthistorische Museum spielt in der Champions League der Museen.