Or Chadasch bildet eine nahezu verschwindend geringe Minderheit innerhalb der jüdischen Gemeinde Wiens. Ein erklärendes Plädoyer, warum die Stadt das liberale Judentum braucht.
Von Eric Frey
Juden sind es gewohnt, als Minderheit zu leben, aber nicht unbedingt, eine Minderheit in der Minderheit zu sein. Wer sich in Wien zum liberalen Judentum bekennt, ist das. Or Chadasch, die einzige nicht-orthodoxe Synagoge in Wien, hat nur etwa 130 Mitglieder – eine verschwindend kleine Zahl gegenüber den rund 8000 Mitgliedern der Israelitischen Kultusgemeinde. In den USA stellen liberale Juden die klare Mehrheit, in Frankreich und Großbritannien bilden sie große Gemeinden. In Wien gehört man hingegen zu einem etwas exotischen Grüppchen, das von manchen angefeindet, von anderen belächelt und den meisten einfach ignoriert wird.
Dennoch gibt es gute Gründe, warum ich zu Or Chadasch gehöre – so sehr, dass ich erstmals in meinem Leben an der Spitze einer Organisation stehe und mich seit dem Sommer Präsident nennen darf. Ich tue das, weil ich nicht nur überzeugt bin, dass liberales Judentum der richtige Weg für mich und meine Familie ist, sondern auch, dass das jüdische Wien diese liberale Variante unbedingt benötigt. Und das gilt auch für jene, die sich nicht davon angesprochen fühlen.
Meine Begeisterung für liberales Judentum stammt aus persönlichen Erfahrungen, die fast 40 Jahre zurückgehen. Ich bin in Wien in einer recht normalen jüdischen Familie aufgewachsen – traditionell, aber nicht religiös. Meine Brüder und ich gingen in den Religionsunterricht und machten brav Bar Mizwa. Meine Familie zündete am Freitagabend Kerzen an, betete und tratschte zu den Hohen Feiertagen im Stadttempel. Ich konnte – und kann bis heute – bruchstückhaft Hebräisch lesen und den wichtigsten Gebeten folgen, wusste viel von jüdischer Geschichte und wenig über den Talmud. Im Alter von achtzehn Jahren kam ich als ausländischer Student an eine US-amerikanische Universität und suchte Anschluss bei jüdischen Mitstudierenden. Beim orthodoxen Kabbalat Schabbat fühlte ich mich verloren, beim liberalen Gottesdienst sofort zuhause. Und es war der Hillel-Direktor, der konservative Rabbiner Eddie Feld, der mich emotional und spirituell in seine Arme nahm. Seine wunderbare Stimme, mit seinen berührenden Gesängen und so klugen Predigten, ist mir bis heute im Ohr.
Religion im Wandel
In Frankfurt, wo ich nach dem Studium einige Jahre lebte und arbeitete, ging ich in die Synagoge der US-Armee, die ebenfalls der konservativen Bewegung angehörte. „Conservative Judaism“ ist die etwas traditionellere Richtung im amerikanischen liberalen Judentum, während sich „Reform Judaism“ noch stärker von der Orthodoxie abgrenzt. Beide sind egalitär: Männer und Frauen haben die gleichen Rechte und Pflichten und nehmen gleichermaßen an allen Gottesdiensten teil.
Als ich 1991 nach Wien zurückkehrte, hatte der Mediziner Theodor Much gerade Or Chadasch gegründet – zum Entsetzen der damaligen IKG-Führung, die sich vor dem Konflikt mit der Orthodoxie fürchtete. Denn für orthodoxe Juden ist das liberale Judentum eine Häresie, die es zu bekämpfen gilt, was vor allem in Israel sogar zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führt. Säkulare Juden sind einfach schlechte Juden, die sich nicht an die Gebote halten, aber die Alleinstellung des orthodoxen Glaubens nicht infrage stellen. Liberale Juden hingegen tun genau das: Sie sind überzeugt, dass sich Religion wandeln kann und befürworten ohne schlechtes Gewissen die Anpassung an die moderne Welt.
Für meine Eltern war Or Chadasch eine große Bereicherung. Mein Vater stammte aus einer assimilierten Familie in Budapest und hätte ohne die NS-Verfolgung sein Judentum wohl ganz aufgegeben. Meine Mutter ist nach der Schoa in Mattersburg und Wien religiös aufgewachsen, mein Großvater war fromm und betete in der Misrachi. Aber als 17-Jährige verbrachte meine Mutter ein Jahr als Austauschschülerin bei einer liberalen jüdischen Ärztefamilie in den USA, wo sie erlebte, dass man auch derart ein bewusstes jüdisches Leben führen kann.
Nach ihrer Heirat suchten meine Eltern einen traditionellen Mittelweg; zu wenig für meinen Großvater und zu viel für meinen Vater. Er konnte vor allem nie verstehen, warum er, dem Religion wenig bedeutete, im Stadttempel unten saß, und meine gläubigere Mutter nach oben verbannt wurde. Warum wurde er bei der Bar Mizwa seiner Söhne zur Tora aufgerufen, wo er die Segenssprüche stammelte, warum durfte meine Mutter nicht? Und vor allem: Warum konnten sie Religion nicht gemeinsam erleben?
Streben nach Zugehörigkeit
Or Chadasch machte das möglich, gab ihnen den Rahmen, der zu beiden passte. Mein Vater war im Vorstand aktiv, und als nach seinem Tod vor zwölf Jahren Präsident Much mich bat, seinen Sitz zu übernehmen, sagte ich auch zu, um sein Andenken zu ehren. Wie wenig wusste ich damals, dass Or Chadasch zu einer halben Lebensaufgabe werden würde.
Ich hatte in den vergangenen Jahren viele Diskussionen mit jüdischen Freunden über den Sinn des liberalen Judentums. Die wenigsten lehnen es grundsätzlich ab. Aber für die einen ist Religion so unbedeutend, dass ihnen auch die liberale Spielart nichts bringt. Für die anderen hat Religion so zu sein, wie sie es zu Hause oder bei den Großeltern erlebt haben. Nur orthodoxe Rituale bedienen ihr Herz und Gedächtnis.
Mir ist Religion wichtig, weniger des Glaubens wegen als aufgrund meines Strebens nach Zugehörigkeit und Identität. Zu diesem emotionalen Bedürfnis kommt die intellektuelle Suche nach moralischen Werten und einem anständigen Leben. Deshalb ist es mir so wichtig, dass mein Judentum keine anderen Grundwerte verletzt, etwa die Gleichberechtigung der Geschlechter.
So oft die Orthodoxie auch behauptet, Männer und Frauen seien bei ihr gleichwertig, aber verschieden – wir wissen, dass die Doktrin von „separate but equal“ ein Vorwand für Diskriminierung ist. Es darf im Jahr 2020 keinen wichtigen Lebensbereich geben, in dem Frauen nur eine Nebenrolle spielen dürfen. Wenn ich mich in meiner journalistischen Arbeit für Gleichberechtigung einsetze, kann ich nicht Ungleichbehandlung in der Religion akzeptieren.
Orthodoxer Stamm, liberale Äste
Mit dreizehn Jahren feierte meine Tochter Isabel ihre Bat Mizwa, mit einer Lesung aus der Tora und einer Rede, in der sie erklärte, wie stolz sie darauf sei, als junge Frau genauso dafür gelernt und erfolgreich ihr Wissen bewiesen zu haben wie ihre gleichaltrigen männlichen Freunde. Ihr Weg zum Feminismus und politischen Aktivismus hat wohl damals begonnen.
In orthodoxen Gottesdiensten fühle ich mich immer als Jude zweiter Klasse, weil ich die Gebete weniger gut beherrsche. Bei Or Chadasch darf niemand dieses Gefühl bekommen, es gibt keine besseren und schlechteren Juden. Deshalb wird durch das Gebetsbuch geführt, und manche Gebete und Psalmen werden auch auf Deutsch oder Englisch gelesen.
Es ist ein Ort, wo Mitglieder der LGBT-Community nicht nur toleriert werden, sondern sich willkommen fühlen, wo nicht-jüdische Partnerinnen und Partner herzlich aufgenommen werden und so dem Judentum näherkommen, und wo interessierte Nichtjuden jüdische Tradition und Glauben kennenlernen können. Woche für Woche entsteht in der kleinen Synagoge am Donaukanal unter der Leitung eines großartigen jungen Rabbiners mit Gebeten, Gesängen und Gesprächen eine ganz besondere Atmosphäre – spirituell, intellektuell, modern und durch und durch jüdisch. Dank der liberalen Auslegung des Judentums ist es in der Corona-Zeit möglich, dass via Zoom jeder an Gottesdiensten teilnehmen kann.
Ich bin mir bewusst, dass ohne die Strenge der Orthodoxie das Judentum die Jahrtausende nicht überlebt hätte. Judentum „light“ ist für manche ein erster Schritt zur völligen Assimilation. Aber Judentum ist wie ein Baum: Die Orthodoxie ist der Stamm, der alles zusammenhält; die liberalen Richtungen stellen Äste, Blätter und Blüten dar, die Vielfalt schaffen und dem Baum erst seine Pracht und Größe geben.
Deshalb ist Or Chadasch trotz seiner Kleinheit für Wiens jüdische Gemeinde so wichtig. In einer Zeit des Friedens, in der Juden weder Verfolgung noch Diskriminierung spüren, ist es oft schwierig, der nächsten Generation die Bedeutung von Religion und Identität zu vermitteln. Viele werden sich vom Judentum lösen, wenn es nicht Optionen gibt, bei denen die Religion in Einklang mit ihren anderen Werten und Zielen steht.
Die Orthodoxie mag noch so laut vor Beziehungen und Ehen mit Nichtjuden warnen. Die Realität ist, dass heute viele Junge ihre Partnerwahl nicht auf die eigene Gemeinde beschränken. Wie kann man dafür sorgen, dass deren Kinder als Juden aufwachsen? Die Orthodoxie macht Konversionen zunehmend schwierig und verlangt ein totales Bekenntnis zu einem strenggläubigen Leben. Doch das wollen nicht alle. Auch für eine liberale Konversion muss man lange lernen und viel arbeiten, es wird niemandem leichtgemacht. Aber das Leben danach ist weniger von Einschränkungen und Widersprüchen geprägt.
Deshalb kämpfe ich dafür, dass Or Chadasch trotz aller Widerstände erhalten bleibt, weiterwächst und zu einem selbstverständlichen Teil der IKG und des Wiener Judentums wird. Die ganze Gemeinde wäre dann größer, stärker und lebendiger. Wir würden alle davon profitieren.
Eric Frey ist seit Juli 2020 Präsident von „Or Chadasch – Jüdische Liberale Gemeinde Wien“.