Von Paul Chaim Eisenberg
Als ich begann, eine Jeschiwa für mein Rabbinerstudium zu suchen, bestand mein seliger Vater darauf, mir dabei zu helfen. Er hatte gute Kontakte zum Rabbinat in Israel und kannte viele religiöse Institutionen. Ein wenig überrascht war er, als ich ihm eine Jeschiwa in Jerusalem vorschlug, in der vor allem junge Männer studierten, die aus den USA stammten.
Er erzählte mir, dass in seiner Jugend niemand auf eine amerikanische Jeschiwa gegangen sei. Als er in dem Alter war, die jüdische Lehre tiefer zu studieren, musste man nicht nach Amerika reisen, und die meisten gingen zum Studieren auch nicht nach Jerusalem, sondern die Jeschiwot waren quasi um die Ecke in Ungarn, der Slowakei, in Polen, in der Ukraine und so weiter. Das waren noch Zeiten! Am Anfang des 20. Jahrhunderts galt Amerika – wie es in einem jiddischen Witz gelobt wird – als „goldene Medine“, also als ein Land, in dem man leichter Geld verdienen konnte als in Osteuropa. Dafür war es aber gleichzeitig notwendig, dass man sieben Tage in der Woche arbeiten musste und so den Schabbat nicht halten konnte. So nannten die orthodoxen Juden Amerika nicht „goldene Medine“ sondern „trefene Medine“, also ein Land, in dem man das Judentum nicht praktizieren konnte.
Und so rieten die Rabbiner davon ab, junge Juden nach Amerika fahren zu lassen.
Eine besonders berührende Geschichte (nicht erfunden, sondern wahr) erzählt von einem jungen Ehemann, der keineswegs am Schabbat arbeiten wollte. Er versuchte, den Eigentümer der Firma zu überreden. Aber nichts half. Daher ging er schweren Herzens Freitag zu Mittag zu seinem Chef und kündigte. Am Sonntag darauf erschien er wieder vor seinem Arbeitgeber und fragte, ob eine Stelle frei sei. Dieser antwortete ihm mit einem Lächeln: „Interessanterweise ist am Freitag Nachmittag eine Stelle frei geworden und sie ist es noch immer …“
Auch die Synagogen und sogar die Rabbiner in den USA waren nicht nach dem Geschmack der Ostjuden, und so verstand ich den Zweifel meines seligen Vaters wegen der Jeschiwa, in der viele Amerikaner studierten.
Es gab ein Vorbereitungsjahr, in dem sollten die Amerikaner, die noch nicht gut Hebräisch sprechen, geschweige denn lesen konnten, die Sprache und Grundregeln des jüdischen Lebens erlernen. Diejenigen, die schon die hebräische Sprache beherrschten und wie ich in einem jüdischen Umfeld aufgewachsen und zur Schule gegangen waren, brauchten diese Vorbereitung natürlich nicht.
Den Einführungskurs mussten oft Studenten von hervorragenden amerikanischen Universitäten besuchen, die als Kinder aber nicht das Glück gehabt hatten, in jüdische Schulen geschickt worden zu sein. Sie waren gebildet genug, in kürzester Zeit ihr Manko zu beheben und spätestens im zweiten Jahr mit den anderen mitzulernen. So konnte man in den Mittagspausen Studenten sehen, die miteinander eine schwierige Talmud-Stelle behandelten und andere, die über moderne Philosophen diskutierten. Und beide Gruppen profitierten voneinander.
Als ich in dieser Jeschiwa studierte, kam eine Bekannte meiner Eltern, die eine sehr berühmte Physikerin war. Sie gehörte der Schwedischen Akademie an, die jedes Jahr die Nobelpreisträger kürt. Sie rief mich in der Jeschiwa an und lud mich zu einer Abendveranstaltung ein, an der sonst nur berühmte Wissenschaftler teilnahmen. Sie sagte mir: „Als Jeschiwa-Student wird es dir guttun, einen Abend lang diesen hervorragenden Wissenschaftlern zuzuhören.“
Am Ende des Abends fragte sie mich, ob ich etwas dazugelernt hätte. Und ich antwortete: „Die Leute an meinem Tisch haben nur darüber diskutiert, welcher Wein der beste ist und in welches Restaurant man in Paris gehen soll.“ (Natürlich war nicht von koscheren Restaurants die Rede.)
Als ich etwa zwölf Jahre alt war, gab der berühmte Rabbi Shlomo Carlebach ein Konzert in Wien. Er lebte in den USA und entstammte einer deutschsprachigen Rabbiner-Dynastie, sein Vater war vor dem Krieg Oberrabbiner von Baden. 1938 musste er fliehen. Er war nicht nur ein Tora-Gelehrter, er war unter dem Einfluss der chassidischen Lehre ein Bühnenstar geworden, der selbst Melodien für jüdische Gebete schrieb, diese sang und jüdische Geschichten hinzufügte.
Kurz davor war ein amerikanischer Rabbiner nach Wien gekommen und hatte meinen Vater besucht. Bei dieser Gelegenheit schenkte er ihm die erste Schallplatte, die Rabbi Shlomo herausgegeben hatte. Ich war so verliebt in diese Platte, dass ich alle Lieder und Gebetstexte singen konnte. Beim Konzert von Rabbi Shlomo saß ich mit meinem Vater in der ersten Reihe und sang fleißig die Gesänge mit.
In der Pause wandte sich der Rabbi an mich und fragte mich, wieso ich seine Lieder singen könnte. Die wären doch gerade erst in Amerika herausgekommen. Ich verriet ihm dann, dass ich die Platte täglich hörte.
Sein Erfolg war so durchschlagend, dass noch heute bei Hochzeiten, aber auch bei Freitagabend-Gottesdiensten seine Melodien gesungen werden. Und das war auch einer der Höhepunkte in meiner „amerikanischen Jeschiwe“.
Bekanntlich habe ich sechs Kinder, die in alle Windrichtungen verstreut sind. Sie hatten alle zwei Staatsbürgerschaften, eine österreichische von mir und eine amerikanische von ihrer Mutter.
Ein Witz war in unserer Familie geläufig: Da die Sowjetunion zirka alle zehn Jahre in eines der angrenzenden Länder einmarschiert ist, sagten die Kinder: „Wenn die Russen jetzt in Wien einmarschieren, können wir alle mit unseren amerikanischen Pässen fliehen, nur der Papa muss bleiben …“