Alltagsgeschichten

Von Erwin Javor

Viele Politiker, Meinungsforscher und manche Medien rechnen fest mit dem kurzen Gedächtnis der Bevölkerung. Wie könnte man sich sonst erklären, dass ein großer Teil der Gesellschaft – trotz einschlägiger Erfahrung – immer wieder auf die gleichen plumpen Tricks hereinfällt. Ein wirkliches Meisterstück für den Verlust des Langzeitgedächtnisses ist jüngst aber der “Kronen Zeitung” gelungen (siehe auch Dokumentation auf S. 10). Unverfroren vergießt sie anlässlich des Ablebens von Simon Wiesenthal Krokodilstränen und hofft, dass sich niemand mehr an diverse Kampagnen gegen Wiesenthal in der Vergangenheit erinnert. Speziell in den siebziger Jahren haben die zahlreichen Angriffe der “Krone” auf Wiesenthal in Österreich eine antijüdische Atmosphäre geschaffen, die mitunter österreichische Juden dazu brachte, auszuwandern oder ihr Judentum nicht mehr öffentlich zu leben.

Wiesenthal hatte zu dieser Zeit sein Büro am Rudolfsplatz, im gleichen Haus, in dem meine Eltern ein Textilgeschäft betrieben. Er hatte die Angewohnheit, regelmäßig meinen Vater im Geschäft zu besuchen. Beide stammten aus der gleichen Gegend in Polen und daher diskutierten sie auf Jiddisch.

Wiesenthal machte sich Sorgen über die antijüdische Stimmung in Österreich, die sich auf Grund der einseitigen Medienberichterstattung breit machte. Die “Neue Kronenzeitung”, angeführt von Viktor Reimann – Mitbegründer der VDU, der Vorgängerpartei der FPÖ -, hatte nämlich 1974 eine pseudowissenschaftliche Dokumentation “Die Juden in Österreich” in 42 Folgen mit großem Aufwand in den Mittelpunkt ihrer Berichterstattung gerückt. Im Vorfeld wurde diese Serie groß angekündigt und Plakate in ganz Österreich affichiert. Die Werbetrommel wurde schon ein halbes Jahr vor dem Erscheinen der Serie gerührt.

Unter dem Titel “Sind wir Antisemiten?” schrieb Reimann: “Die Juden selbst gewinnen damit nichts. Mit der ständigen Warnung vor dem Antisemitismus in Österreich wird dieser nicht beseitigt, sondern verstärkt.” Während der Serie – Reimann revidierte darin ungeniert die Anzahl der Shoahopfer nach unten – wurde in diversen Leserbriefen purer Antisemitismus verbreitet. So schrieb zum Beispiel Herr Dr. Wilhelm Loserth aus 3420 Kritzendorf: “Anlässlich des 80. Geburtstages von Rudolf Heß überlege ich: … Wie antisemitisch handelt eigentlich Simon Wiesenthal, wenn er sich gegen eine Freilassung dieses Märtyrers für den Frieden wendet!” Oder “Die Juden in Österreich bezahlen lebenslänglich keine Steuer. Wegen der Wiedergutmachung. Das sind Parasiten. Habe nichts übrig dafür.” (Alois Schaßendoppler, 5400 Hallein.)

Kein Wunder, dass der Druck auf Wiesenthal auch von jüdischer Seite zunahm. Die Angst, dass sich eine Pogromstimmung in Österreich ausbreiten könnte, war nicht ganz unberechtigt. Wiesenthal hat meinem Vater immer wieder zu verstehen gegeben, dass ihn die täglichen anonymen Morddrohungen weitaus weniger belasteten als die Ablehnung und die Ängste einiger Juden. In einem Leserbrief an Reimann schrieb er am 22. April 1974: “Es wäre mir ein leichtes gewesen, gestern die ,Kronenzeitung’ beschlagnahmen zu lassen unter Bezugnahme auf die Bezeichnung meiner Tätigkeit als ,Menschenjagd’. Ich habe den Staatsanwalt nicht aufgesucht, damit es nicht heißt, die Juden wollen verhindern, dass die Wahrheit über sie ans Licht kommt …”

Simon Wiesenthal hatte keinen Bodyguard und ich erinnere mich, dass er immer nach einem dieser Gespräche mit meinem Vater aufstand und vor dem Verlassen des Geschäftes die Lage auf der Straße prüfte. Dann ging ein fast unmerklicher Ruck durch seinen Körper. Er richtete sich kerzengerade auf und dann betrat dieser mutige und aufrechte Mann mit einer Hand in seiner Manteltasche, in der er stets eine Waffe trug, die Straße.

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