Nur ein Fünftel der jüdischen Wählerinnen und Wähler stimmte bei der US-Präsidentschaftswahl für Donald Trump. Es ist Joe Biden, der im Jänner mit der größten jüdischen Zustimmung seit Jahrzehnten ins Weiße Haus einziehen dürfte. Was Bidens Wahlsieg und Trumps Abwahl für US-amerikanische Juden und den Nahen Osten bedeutet.
Von Eric Frey und Peter Frey
Kein Präsident der vergangenen Jahrzehnte löste so viel Antipathie bei US-Juden aus wie Donald Trump. Nur bei den Orthodoxen hatten er und andere republikanische Kandidaten eine deutliche Mehrheit, bei allen anderen Gruppen konnte Joe Biden vier Fünftel aller Stimmen für sich gewinnen. Vier Jahre lang versuchte Trump (fast) alles, jüdische Wähler, die traditionell Demokraten unterstützen, für sich zu gewinnen. Er erfüllte wie kein anderer US-Präsident vor ihm die Wünsche einer israelischen Regierung, von der Übersiedlung der US-Botschaft nach Jerusalem bis zur Zustimmung zur Teil-Annexion des Westjordanlandes; und er setzte seinen jüdischen Schwiegersohn und Berater Jared Kushner als Friedensstifter im Nahen Osten ein. „Kein Präsident hat so viel für die Juden getan“, verkündete Trump immer wieder und warf jüdischen Demokraten Illoyalität vor.
Geholfen hat ihm das nicht. Nur 21 Prozent der jüdischen Wählerinnen und Wähler stimmten bei der Präsidentschaftswahl für Trump, weniger noch als 2016. Eine Umfrage der linksliberalen jüdischen Organisation J Street, die sich für eine Zwei-Staaten-Lösung im Nahostkonflikt einsetzt, zeigt, dass Trump an zwei Fronten scheiterte. Erstens sind den meisten US-amerikanischen Juden heute andere Themen wichtiger als Israel: Heuer waren es die Corona-Pandemie, das Gesundheitssystem, der Klimawandel, die Wirtschaftslage und die Zusammensetzung des Höchstgerichts. Nur fünf Prozent nannten Israel als eine der beiden Top-Prioritäten.
Breite Ablehnung
Und auch beim Thema Israel lehnen die meisten die Politik von Trump ebenso ab wie die des israelischen Premiers Benjamin Netanjahu, der in den Trump-Jahren bei US-Juden zunehmend unbeliebt geworden ist. Sie unterstützen eine Zwei-Staaten-Lösung mit einem palästinensischen Staat, lehnen die Annexion von Teilen des Westjordanlandes und den Bau neuer jüdischer Siedlungen dort ab und wollen die finanzielle Unterstützung für die Palästinenserführung, die Trump beendet hat, wiederherstellen. Auch beim Atomdeal mit dem Iran ist Amerikas jüdische Bevölkerung auf Seiten von Biden, der zu dem unter Barack Obama ausgehandelten Pakt zurückkehren will, und steht damit im Gegensatz zu den meisten Israelis.
„Jüdische Wähler haben sich wieder einmal liberaler als fast jede andere demografische Gruppe erwiesen und gezeigt, dass die Berufung auf eine rechte, angeblich pro-israelische Außenpolitik nicht funktioniert – vor allem, wenn sie von einer Partei kommt, die offen für weiße Nationalisten und antisemitische Verschwörungstheoretiker eintritt“, sagt Jeremy Ben-Ami, Präsident von J Street.
Für die Evangelikalen mag Trump tatsächlich der „König Israels“ sein, wie er sich in Tweets nannte, ebenso für den jüdischen Rechtsaußen-Milliardär Sheldon Adelson, der 75 Millionen Dollar für den Trump-Wahlkampf gespendet hat. Doch es ist Biden, der am 20. Jänner mit der größten jüdischen Zustimmung seit Jahrzehnten ins Weiße Haus einziehen dürfte.
Das liegt auch daran, dass Biden in seiner 47-jährigen politischen Laufbahn stets als großer Freund Israels gegolten hat und damit auch den jüdischen Wähler der Mitte – der den linken, israel-kritischeren Kräften in der Demokratischen Partei skeptisch gegenübersteht – ansprechen kann. Anders als bei Obama wird Biden sowie der zukünftigen Vizepräsidentin Kamala Harris mit ihrem jüdischen Ehemann eine von positiven Emotionen getragene Haltung gegenüber Israel zugetraut. Aber wie sich die Nahostpolitik einer Regierung Biden gestalten wird, ist noch nicht ganz klar.
Eine Säule weniger
In vielen Punkten wird Biden einfach zur Linie der Obama-Jahre zurückkehren. Das gilt vor allem für die Iranpolitik. Hier wird Biden viel Energie einsetzen, um den von Trump aufgekündigten Atomdeal (JCPOA) wieder zum Leben zu erwecken und nur jene Sanktionen beizubehalten, die nicht mit der iranischen Nuklearpolitik zusammenhängen. Ob dies gelingen kann, ist allerdings offen. Denn auch im Iran ist die Unterstützung für den Deal in den vergangenen vier Jahren gesunken. Und das Regime in Teheran wird sich hüten, Zugeständnisse zu machen, wenn ein zukünftiger republikanischer Präsident, der im schlimmsten Fall Trump heißen könnte, alles wieder zerreißen könnte.
Die von Trump und Kushner ausgehandelten Friedensabkommen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Sudan wird Biden voll unterstützen und weitere Friedenspartner suchen. Allerdings dürften sich die Beziehungen zu Saudi-Arabien deutlich abkühlen. Der saudische Thronprinz Mohammed Bin Salman wird Biden den Kurswechsel zum Iran übelnehmen, und die Biden-Regierung ihm seine Menschenrechtsverstöße, wie die grausame Ermordung des Journalisten Jamal Kashoggi. Diese Säule der US-Politik in der Region dürfte deutlich schwächer werden.
Auch die Allianz mit Israel steht vor einer Belastungsprobe. Die Achse Trump-Netanjahu hat einen Keil zwischen Israel und die Demokraten getrieben. Auffallend ist, wie schwach die Netanjahus Gratulation zu Bidens Wahlsieg ausgefallen ist. Bidens wichtigste außenpolitische Berater wie Jake Sullivan, Tony Blinken und Wendy Sherman stehen etwas links von ihm und könnten auf eine kritischere Haltung gegenüber der israelischen Besatzungspolitik und dem Siedlungsbau drängen. Doch insgesamt dürfte der israelisch-palästinensische Konflikt in den Hintergrund rücken. Biden wird sich hüten, viel politisches Kapital für dieses so undankbare Thema zu verwenden – vor allem auch, weil das Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung derzeit weiter entfernt denn je scheint.
Über die Art und das Ausmaß der Militärhilfe für Israel könnten innerhalb der Demokratischen Partei und damit auch der Regierung Biden heftige Debatten entstehen. Die entscheidende Frage ist, wie sehr diese Milliardenhilfe an Bedingungen geknüpft wird, was der linke Flügel in der Partei und auch immer mehr jüdische Wähler fordern. Für J-Street-Chef Ben-Ami wäre es entscheidend, dass die Regierung sich vehement gegen jede Form der Annexion oder des Siedlungsbaus stellt, der dazu gedacht ist, die Gründung eines Palästinenserstaates zu verhindern: „Ein Weg, auf dem man diese Botschaft vermitteln kann, wäre die Klarstellung, dass amerikanische Verteidigungshilfe ausschließlich für Israels echte Sicherheitsbedürfnisse verwendet werden darf – und nicht, um die Besatzung auszubauen oder eine Annexion voranzutreiben.“ Solche Auflagen, auf die Obama verzichtet hatte, wurden zuletzt von führenden Demokraten im Kongress befürwortet.
Konstruktive Kritik
Für J Street war der jüngste Wahlkampf ein großer Schritt vorwärts. Durch die klare Ablehnung der Trump-Politik hat die Organisation ihren Einfluss in der Demokratischen Partei ausgebaut und steht jetzt zumindest gleichberechtigt neben AIPAC, der etablierten pro-israelischen Interessenvertretung, die auf Kritik an israelischer Regierungspolitik weitgehend verzichtet. Aber wie die Umfragen zeigen, steht die Mehrheit der US-Juden näher bei den Positionen, die J Street vertritt. Dazu zählt auch die klare Ablehnung der Boykottbewegung BDS, die unter manchen jüdischen Studierenden und dem ganz linken Rand der Demokraten eine gewisse Sympathie genießt. Aber auch progressive Demokraten wie die neugewählten schwarzen Abgeordneten Mondaire Jones und Jamaal Bowen, der in Westchester nördlich von New York City den demokratischen Polit-Veteranen Elliot Engel besiegt hat, stehen mit ihrer offenen, aber konstruktiven Kritik an der israelischen Besatzungspolitik J Street nahe.
Die Verlierer der Wahl sind jedenfalls die Nationalreligiösen und Orthodoxen, die unter Trump viel Prominenz und Einfluss hatten. Insgesamt dürften die Trump-Jahre aber die politische und emotionale Bindung zwischen den US-amerikanischen Juden und dem Staat Israel weiter geschwächt haben. Und das könnte für Israel langfristig zum größten Problem werden.
Peter Frey lebt seit dreißig Jahren in den USA und ist Vorstandsmitglied von J Street.