Moses Mendelssohn, einer der wichtigsten deutschen Aufklärer, verlässt mit 14 seine Familie in Dessau und geht zu Fuß nach Berlin zu seinem Lehrer. Die deutsche Autorin Katja Behrens hat die Reise des kleinen Mausche Mendelssohn nacherzählt, so wie sie hätte gewesen sein können. Herausgekommen ist eine Parabel der Toleranz.
Von Danielle Spera
Eigentlich hatte ich den „Kleinen Mausche aus Dessau“ für meine Tochter gekauft, doch als ich begann hineinzulesen, hat mich das Buch so in seinen Bann gezogen, dass ich es nicht mehr weglegen konnte. Der 14- jährige „Mausche ho koton – mi Dessau“, verlässt das Ghetto, aus dem er zuvor noch nie herausgekommen war, in notdürftigen Schuhen aus Stroh und Lumpen. Er will seinem Lehrer David Fränkel folgen, der in Berlin Oberrabbiner geworden war. Rabbi Fränkel hat in Mausche die Leidenschaft und Lust zu lernen geweckt. Als Jude hatte Mausche keine weltliche Schule besuchen dürfen. Zu Hause sprach man Jiddisch und Hebräisch.
Moses „Mausche“ Mendelssohn hat einen Buckel, er hinkt und stottert, trägt schwarze Kleidung und ein Bündel, in dem er seinen kostbarsten Besitz versteckt, ein Buch. Wenn er auf seiner Reise Angst hat, möchte er sich am liebsten darin verstecken. Doch trotz aller Gefahren, die überall auf den jüdischen Burschen lauern, gehen Mausche schon bei den ersten Schritten aus der Enge des Ghettos von Dessau in die Weite der neuen Freiheit die Augen auf: „Er war berauscht von den Farben, Rot und Gelb und Rost und Braun, alles leuchtete. Zu Hause war alles nur schwarz und grau. Keine Blumen, kaum Bäume. Schwarz die Hüte und die Kaftane und die Buchstaben, grau die Häuser, die Esel, die Steine. Das Blau des Himmels und das Blau des Wassers, er war zum ersten Mal über Wasser gefahren, es hat ihm gefallen, von den Wellen getragen und gewiegt zu werden.“
Trotz der Freude und Begeisterung ist die Furcht sein ständiger Begleiter. Berichte über Vertreibungen und Pogrome gegen Juden waren schon in Dessau allgegenwärtig. Auf seiner Reise durch das Feindesland drohen ihm ständig Demütigungen, er wird verspottet, beschimpft, an jedem Schlagbaum muss er – wie jeder Jude – Leibzoll bezahlen, wie ein Stück Vieh. Doch Mausche bleibt in seinem Glauben an das Mitgefühl unerschütterlich. Und er wird nicht enttäuscht. Er begegnet den verschiedensten Menschen, die ihm helfen und beschützen: Hannes, dem jungen Hufschmied aus Wiesbaden, einem Scherenschleifer- Paar aus einer Zigeunerfamilie, einer Bande von jüdischen Räubern, die darüber streiten, ob man am Schabbat Leute überfallen darf, einem Theologie-Studenten, einem Soldaten der preußischen Armee oder adeligen Damen. Mit ihnen allen unterhält sich Mausche, obwohl er ihre Sprache nicht kann und sie die seine nicht verstehen. „Er beginnt Wörter zu sammeln und trägt sie mit sich herum wie einen Schatz. Jedes neue Wort macht ihn ein Stückchen freier.“
Auf Hannes, den hessischen Handwerksburschen, trifft Mausche immer wieder. Beide beobachten einander mit Befremden, aber doch auch neugierig und wissbegierig: Hannes kniet am Abend im Wald zum Gebet nieder, Mausche legt Gebetsriemen an und schaukelt mit dem Oberkörper hin und her. Lange werden sie nicht zusammenbleiben, aber lange genug, um zu erkennen, dass Fremde nicht Feinde sein müssen.
Aus dem kleinen Mausche wurde ein großer Gelehrter und Vorkämpfer für die Verständigung von Christen und Juden. Lessing verewigte Moses Mendelssohn in seinem Stück „Nathan der Weise“. Davon berichtet Katja Behrens in einem Epilog. Es rundet den spannend und packend erzählten fiktiven Reisebericht noch ab. Das vielfältige Bild vom Alltag und Leben der deutschen Juden im 18. Jahrhundert geht einem – auch Wochen nach der Lektüre – nicht mehr aus dem Kopf.
Katja Behrens
Der kleine Mausche aus Dessau
Moses Mendelssohns Reise nach Berlin im Jahre 1743
Hanser Verlag, München 2009,
208 S., geb., 14,90 Euro