In den sozialen Medien und auf den Straßen Europas tobt der Stellvertreter-Krieg. Freunde werden zu Feinden, und auf paradoxe Weise politische Feinde zu ungebetenen Freunden. Israel oder Hamas, niemand ist neutral.
In Europa greift mit einer nicht erwarteten Rasanz ein antijüdischer Furor um sich. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier bringt es auf den Punkt, wenn er sich über eine Welle an antijüdischer Hetze und Übergriffen schockiert zeigt. Es würden Parolen gebrüllt, die an Judenhass nicht mehr zu überbieten seien. Das gilt auch für Österreich.
So bekommt mit einem Mal die Frage neue Bedeutung, was denn der Unterschied zwischen einem Israeli und einem Juden ist, warum die europäischen Juden verantwortlich gemacht werden für Entscheidungen der israelischen Regierung – aber auch, warum die meisten Juden mehr oder weniger vorbehaltlos die Positionen Israels unterstützen.
Österreichische Juden werden oft gefragt, wie sie ihr Judentum definieren, also was denn eigentlich ein Jude sei. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wäre das eine einfach zu beantwortende Frage gewesen. Die Religion stiftete die Identität. Doch mit der Säkularisierung änderte sich das grundlegend. Es schien, als könnte man das Judentum, gemeint als Religion, abstreifen und ein gleichberechtigter freier Bürger werden.
Dann kamen die Nationalsozialisten und führten eine neue Definition des Judentums ein. Sie schufen eine ebenso skurrile wie mörderische Rassen-Klassifikation und bestimmten, wer als Jude zu gelten hatte. Alles war mit einem Schlag anders. Die Assimilation war gescheitert, Atheisten und Religiöse wurden im selben Viehwaggon nach Auschwitz verschleppt und getötet.
Seit damals muss Judentum neu gedacht werden. Wenn es solche Rassisten einmal gegeben hat, kann es sie wieder geben. Wenn dich jemand einseitig als Jude festmacht und dann töten will, musst du diese Herausforderung annehmen. Es gibt kein Verstecken und kein Entkommen.
Daraus haben wir gelernt, dass wir uns zu einem Judentum jenseits der Religion bekennen. Mit den Raketenangriffen der Hamas und der Gegenwehr Israels erfuhr die Geschichte eine seltsame Wiederholung.
Europäische Jugendliche, vielfach Einwandererkinder aus der Türkei oder muslimisch dominierten Ländern, attackierten im Zuge der Auseinandersetzungen im Nahen Osten Juden in ihren neuen Heimatländern, sei es Frankreich, Deutschland oder auch Österreich. Sie machen keinen Unterschied zwischen Israelis und Juden, sie definieren den Feind nach ihren eigenen Kriterien, ähnlich wie es die Nationalsozialisten seinerzeit auch gemacht haben und Neonazis bis heute tun. Diesen neuen Feinden sind Israelis und Juden ein und dasselbe.
Es hilft uns Juden nicht, die israelische Position zu hinterfragen, auch wenn das manche vielleicht wollten. Unsere Feinde begegnen uns, wie immer wir auch reagieren, mit einem unglaublichen Hass. Uns, die wir sie bei antimuslimischen oder antitürkischen Attacken stets verteidigt haben. Da schreibt einer in Facebook mit vollem Namen und Bild: „Solange noch ein Jude am Leben ist, wird es keinen Frieden geben.“ Und das ist noch ein vergleichsweise harmloses Beispiel.
Es gibt keinen Kompromiss. Sollen wir uns vor den wütenden Mob hinstellen, wenn er zu Zehntausenden schreit: „Judenschwein, Judenschwein, komm heraus und kämpf allein“, und sagen: „Bitte sehr, ich bin zwar Jude, aber ich kann nichts für den Konflikt und habe die israelische Regierung auch nicht gewählt“? Schwachsinn! Wir sind auf Gedeih und Verderb mit Israel verbunden, so wie wir – religiös oder nicht – als Juden im Schicksal zusammenstehen müssen. Wo viel Feind, da viel Solidarität.
Es ist in den letzten Wochen eine neue Qualität entstanden, die auch Nichtjuden zu denken geben sollte. Sie müssen sich bei Auseinandersetzungen entscheiden, was ihr erstes politisches Ziel ist. Wollen sie Attacken auf Israel reiten und dem Land vorwerfen, sich in unverhältnismäßiger Weise zu verteidigen oder verteidigt zu haben, ohne auch nur den kleinsten Hinweis dafür zu geben, wie man sich „verhältnismäßig“ gegen Raketenangriffe verteidigen kann? Oder wollen sie hier, wo sie für das politische Klima mit verantwortlich sind, Stellung nehmen und gegen antijüdische Ausfälle protestieren?
Erneut lernen wir Juden unsere Lektion. Wir können uns nur auf einige Wenige und auf uns selbst verlassen. Es gibt in Österreich zwar viele Sonntagsredner, aber keinen merkbaren Widerstand. So bleibt als Land, das bedingungslos für die Interessen der Juden eintritt, nur Israel. Unsere Feinde zwingen uns dazu, für eine Politik einzustehen, die wir nicht mitbestimmen können. Gleichzeitig schwindet unser Wille, für die Rechte der Muslime und Türken in Österreich einzutreten, wenn so viele von ihnen uns mit solcher Verachtung begegnen.
Wir werden aber darüber hinaus auch manche angeblichen Freunde verlieren, die unsere Lage nicht verstehen wollen, weil sie in der selbstzufriedenen Ecke der scheinbaren Sicherheit sitzen. Möge ihnen nicht passieren, dass es in ähnlicher Form gegen Christen geht und dass der wütende Mob definiert, wer der christliche Feind ist. Denn dann würde auch ihnen, egal ob religiös oder nicht, keine Distanzierung helfen.