Aktenzeichen XY unerhört

Vom einst als Holocaust-Forschungsstätte von Weltrang geplanten Wiesenthal-Institut bleiben öffentlicher Zank, abgetretene Wissenschafter und eine staunende Öffentlichkeit. Wie ein Prestigeprojekt aufgrund persönlicher Machtkämpfe beinahe zerstört wurde.
Von Barbara Tóth (Recherche) und Heribert Corn (Fotos)

Als das Bild auf der linken Seite entstand, war die Welt des kleinen Wiener Simon-Wiesenthal-Instituts noch in Ordnung. Zu sehen sind die Historiker Ingo Zechner und Lothar Hölbling, zwischen ihnen steht der langjährige Amtsdirektor und Archivbeauftragte der Kultusgemeinde, Avshalom Hodik. Die Kisten enthalten noch ungeordnete Dokumente der Kultusgemeinde, die im Jahr 2000 in einer ehemaligen Hausmeisterwohnung in einem von der IKG verwalteten Gebäude im 15. Bezirk eher zufällig und in katastrophalen Zustand wiederentdeckt wurden. Zechner und Hölbling und einige andere, junge Historiker sichteten das Material damals eigenhändig, entstaubten es und brachten es in Sicherheit. Der Zufallsfund entpuppte sich als wissenschaftliche, wenngleich erschreckende Sensation und machte rund um die Welt Schlagzeilen. Aufgrund der gefundenen Karteiordner, so genannter „Auswanderungsfragebögen“ und Deportationslisten, ließ sich die durchbürokratisierte Vernichtungsmaschinerie der Nazis exemplarisch nachvollziehen.

Inzwischen sind die drei Herren im Kultusgemeinde-Archiv am Wiener Desider-Friedmann-Platz personae non gratae. Das Gleiche gilt auch für andere ehemalige Mitarbeiter, die mit Hilfe der Archivakten in der Anlaufstelle der Kultusgemeinde gearbeitet hatten und Restitutionsfälle wie Schicksalsgeschichten erstmals wieder nachvollziehbar machten.

Was ist passiert? Das Archiv der Kultusgemeinde hätte gemeinsam mit dem Nachlass des „Nazi-Jägers“ Simon Wiesenthal den Grundstock des neu gegründeten Wiener Wiesenthal- Instituts (VWI) bilden sollen. Für die Kultusgemeinde hätte das einen mutigen Schritt bedeutet. Es ist nicht unbedingt üblich, dass Religionsgemeinschaften ihr Archiv der Wissenschaft bereitwillig öffnen. Das VWI wäre in jeder Hinsicht eine Ausnahmeinstitution geworden. Mit Anton Pelinka hatte es einen über alle Zweifel erhabenen Leiter gefunden, im wissenschaftlichen Beirat war die Crème de la crème der internationalen Holocaustforschung versammelt. Die Finanzierung durch Bund, Stadt Wien und Kultusgemeinde war paktiert. Damit wäre auch die kostspielige Lagerung und Instandhaltung des Aktenmaterial gesichert gewesen. Niemand hätte gedacht, dass dieses Projekt, das Vorteile für alle Seiten bringt, noch scheitern kann.

Es tat es doch. Aus einem inhaltlichen Konflikt, in dessen Zentrum die Frage nach freiem Aktenzugang stand, entwickelte sich ein persönlicher Machtkampf auf zwei Ebenen: zum einen zwischen dem designierten VWI-Geschäftsführer Zechner und der einflussreichen IKG-Restitutionsbeauftragten Erika Jakubovits, die die Archivfrage vor etwas mehr als einem Jahr für sich entdeckt hatte. Ihre Identifikation damit ging sogar so weit, dass sie sich in einem vom IKG-General Raimund Fastenbauer verfassten Artikel der „Gemeinde“, der offiziellen Mitgliederzeitung der IKG, als eigentliche Entdeckerin und Retterin der verschollen gelaubten Archivbestände in der Herklotzgasse feiern ließ.

Zum anderen spielte sich der Machtkampf zwischen den beiden Spitzenrepräsentanten der betroffenen Institutionen, Pelinka und Muzicant, ab. Hier trafen zwei sehr unterschiedliche Charaktere aufeinander: Hier der Wissenschafter, für den die Sache gleichbedeutend mit seiner persönlichen Integrität ist, dort der verhandlungsgeeichte, pragmatische Geschäftsmann. Beide sparten im Nachhinein nicht mit deftigen Aussagen in der Öffentlichkeit, die den Grad der Entfremdung deutlich machen. Muzicant über Pelinka im „profil“: „Pelinka ist einer der größten Politologen in Österreich, aber menschlich ist er eine große Enttäuschung.“ Pelinka über Muzicant im „Falter“: „Dahinter (hinter dem Vorgehen Muzicants) steckt das, was Karl Kraus einmal die ‚absichtslose Gemeinheit‘ genannt hat.

Ich würde es auch ‚Dummheit‘ nennen.“ Die inhaltlichen Fronten sind leicht erklärt. Pelinka wollte das gesamte Archiv zugänglich machen, so wie es die Wiener Kultusgemeinde dem United States Holocaust Memorial Museum gewährte. Muzicant war das zu freizügig. „Die Kultusgemeinde hat ein Riesenproblem mit Eigentumsverlusten. Wir haben eine Paranoia, dass man uns Dinge wegnimmt. So ist es uns bereits einmal geschehen mit jenem Teil unseres Archivs, der in den fünfziger Jahren nach Israel verliehen wurde“, sagt Muzicant dem „profil“.

Dabei war die Regelung, die die Kultusgemeinde mit dem Holocaust Museum gefunden hatte (und die es auch mit den Mormonen gibt, eine sehr an Ahnenforschung interessierte Gruppe) jahrelang unumstritten, auch in der Kultusgemeinde. Inzwischen wird Hodik, der diese Verträge ausgehandelt hat, dafür angeprangert.

Über den Sommer hin war die Lösung des VWI-Konflikts im Wesentlichen den Anwälten überlassen worden, mit dem Ergebnis, dass der strittige Archiv-Nutzungsvertrag im Laufe der Verhandlungen zu einem Paragraphendickicht angewachsen war. Der Letztentwurf sah keine öffentliche Bereitstellung der Daten vor, dafür hätte das Wiesenthal-Institut zwar die Digitalisierung der Akten übernommen, sich aber keine Kopie behalten dürfen. Der Zugang zum Archiv hätte einem Hochsicherheitstrakt geähnelt. „Dieser Vertragsentwurf ist ein Ausdruck versuchter Bevormundung und des Misstrauens“, schrieb Pelinka an Muzicant Ende Juli enttäuscht, bald darauf folgte sein entnervter Rücktritt.

Schon zuvor hatte das Vorgehen der Kultusgemeinde für Irritationen gesorgt. Bereits im Frühjahr wurden die Schlösser zum Archiv ausgetauscht, sodass die Wiesenthal-Instituts-Mitarbeiter keinen Zugang mehr hatten. Anfang September waren dann auch die eigenen Büros versperrt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt dürfte allen Beteiligten klar geworden sein, dass eine gütliche Einigung zwischen Muzicant und Pelinka nicht mehr möglich war. Was folgte, war ein interner Kampf um die Macht im Vorstand des siebenköpfigen Wiesenthal-Instituts, der von der Kultusgemeinde, der Universität Wien, dem Institut für Konfliktforschung, dem Dokumentationsarchiv des östereichischen Widerstandes, dem Bund jüdischer Verfolgter, dem Jüdischen Museum Wien und dem Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften beschickt wird.

Höhepunkt dieser Auseinandersetzung war die Neubestellung des VWIVorstands am 5. November – ein Vorgang, der von Muzicant-Kritikern als putschartig erlebt wurde, weil fünf von sieben VWI-Vorstandsmitgliedern vom IKG-Präsidenten selbst nominiert wurden. „Die IKG kann nun den umstrittenen Vertrag gleichsam mit sich selbst schließen“, kritisierte Zechner im „profil“. Aus der Sicht der IKG war dieser Schritt unumgänglich, um das Wiesenthal-Institut wieder handlungsfähig zu machen. Drei Generalversammlungen waren zuvor mangels Kompromiss vertagt worden. Außerdem war man im Lager Muzicants darüber verägert, dass Hodik versucht hatte, den Zeithistoriker Bertrand Perz aus dem Vorstand hinauszureklamieren. Das brachte auch die Vertreter der Universität Wien gegen das Pelinka- Lager auf, die sich ein Wiesenthal- Institut ohne zeitgeschichtliche Beteiligung nicht vorstellen konnten.

Die entscheidende Stimme sicherte sich das Muzicant-Lager am jenem Novemberabend, indem Wiesenthals ehemalige Büroleiterin, die von ihm eingesetzte Nachlassverwalterin Rosa Marie Austraat, aus dem Vorstand hinausbugsiert wurde. Sie war ursprünglich vom Bund jüdischer Verfolgter in den VWI-Vorstand nominiert worden. Im Vorfeld hatte Fastenbauer per Mail und Fax einen „Umlaufbeschluss“ organisiert, durch den anstelle Austraats der Muzicant- Mann Berthold Sandorffy eingesetzt werden sollte. Dies geschah auf Wunsch von Wiesenthals Tochter Paulinka, die „tiefe Sorge“ darüber äußerte, dass der Verein „Schauplatz destruktiver Auseinandersetzungen“ wurde. „Warum ist der Beschluss so eilig?“, fragte Pelinka Muzicant in der Sitzung. „Weil Sie Frau Austraat weghaben wollen?“

Letztlich stimmten nur drei Anwesende für Pelinkas Wahlvorschlag, er wurde somit abgelehnt. Muzicant konnte seine Personalwünsche in Folge mit einer Mehrheit von vier Stimmen durchbringen, darunter ein neues Vorstandsmitglied, der Salzburger Jurist Georg Graf. Zuvor hatte der IKG-Präsident eine Statutenänderung erwirkt. Nicht nur die Trägerorganisationen sollen durch Vorstandsmitglieder vertreten sein, auch „zusätzliche Nominierungen“ sollen möglich sein. Graf war eine solche.

Muzicant ist es jedenfalls buchstäblich in letzter Minute gelungen, die Kontrolle über das Archiv der Kultusgemeinde wieder zurückzugewinnen. Den Preis, den er dafür zahlt, ist hoch: Pelinkas Rücktritt hat auch den Großteil des wissenschaftlichen Boards resignieren lassen, darunter der Doyen der Holocaust-Forschung, Yehuda Bauer. Die New York Times berichtete zwei Mal über die merkwürdigen Vorgänge in Wien.

Als neuer Sprecher für das Wiesenthal- Institut treten nun Graf und die Historikerin Brigitte Bailer-Galanda auf. Graf erklärte der New York Times, dass die Sorge, die freie Forschung sei nicht gewährleistet, „jeglicher realistischer Basis“ entbehre. Und Bailer-Galanda warf Pelinka ebendort „einseitige Fehlinformation“ vor. Solche Schlagzeilen wollte das Wiesenthal-Institut ursprünglich sicherlich nicht machen.

 

Ein Archiv – drei Orte
Die Geschichte des Archivs der Kultusgemeinde ist wechselhaft und spiegelt den Glauben beziehungsweise Unglauben ans jüdische Leben in Wien wider. Die Kisten, die derzeit auf rund 330 Quadratmetern am Desider-Friedmann- Platz lagern, stellen nur einen kleinen, wenngleich sehr relevanten Teil des Archivs dar, findet sich in ihnen doch jenes holocaust-relevante Material, das die Jahre 1938 bis 1945 rekonstruierbar macht. 1.200 Archivkartons befinden sich in Moskau. Sie wurden von der Roten Armee nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Schlesien entdeckt, wohin sie 1943 geschickt worden waren, um nicht Opfer der Luftangriffe zu werden. Das Außenministerium und die IKG bemühen sich derzeit um eine Rückgabe. Ein weiterer Teil des Archives, vor allem Material aus der Zeit vor 1938, aber auch aus der Nazi-Zeit, befindet sich in Jerusalem, in den Central Archives for the History of the Jewish People. Dorthin wurden sie tranchenweise in den 1950er und 1970er Jahren gebracht, weil damals in Wien niemand daran glaubte, dass es wieder einmal eine lebendige, jüdische Gemeinde geben könne. Jener Teil, der in Wien verblieben ist, wurde 1986 bei Umbauarbeiten in der Seitenstettengasse entdeckt, offenbar als unwichtig eingeschätzt und verräumt – bis er 2000 in der Herklotzgasse von jenem jungen Historikerteam wiederentdeckt wurde, das dann auch die Anlaufstelle der IKG aufbaute.

 

Wer will was?

Anton Pelinka:
Der aus Protest zurückgetretene Leiter des Wiesenthal-Instituts hätte gerne das gesamte Archiv der IKG für die Wissenschaft zugänglich gemacht und das VWI zu einer internationalen Holocaust-Forschungsstätte gemacht.

Ariel Muzicant:
Den Präsidenten der Kultusgemeinde überkam spät, aber doch die Sorge, dass er die Kontrolle über „sein“ Archiv verliert. Er wollte nicht das gesamte Archiv übergeben, sondern genau kontrollieren, was herausgegeben wird und was nicht. Er musste einsehen, dass mit dem bereits bestellten Instituts- Board kein Kompromiss in seinem Sinne möglich war. Also machte er sich daran, das Personal auszutauschen.

Erika Jakubovits:
Muzicants einflussreiche rechte Hand übernahm als Restitutionsbeauftragte der IKG die Aufgabe, das Wiesenthal- Institut wieder auf Linie zu bringen. Für sie ist die erzielte Lösung auch ein persönlicher Machtgewinn.

Ingo Zechner:
Der Historiker, der seine wissenschaftliche Karriere als Zivildiener im IKGArchiv begann und es bestens kennt, wäre Geschäftsführer des Wiesenthal- Instituts geworden. Die Chemie zwischen ihm und Jakubovits stimmte nicht mehr, also musste er gemeinsam mit Pelinka abtreten.

Die mobile Version verlassen