VON DAVID BOROCHOV
Die größte Menora der Welt steht vor dem Bahnhofsgebäude von Birobidschan
In der Sowjetunion der 1920er Jahre wurde die Situation der ansässigen Juden zunehmend ungemütlicher. Versuche, die Juden an der Krim und in der Ukraine anzusiedeln, scheiterten am Protest der lokalen Bevölkerung. Da sich die Juden wegen vielfältiger Fähigkeiten als äußerst rentabel erwiesen, wollte Stalin sie unter keinen Umständen verlieren. Er befürchtete, sie würden sich dem zionistischen Gedanken anschließen und nach Palästina abwandern. Bei der Suche nach einem geeigneten Gebiet wollte er gleich noch ein Problem lösen. Er sah Probleme für sein Land in der Instabilität Chinas, wo ein Bürgerkrieg wütete. Eine Ausbreitung auf sowjetisches Staatsgebiet schien zwar nicht wahrscheinlich, aber doch möglich. Auch eine japanische Expansion in die fernöstlichen Gebiete der UdSSR war nicht unrealistisch. Die logische Folge war die Errichtung einer jüdischen autonomen Region im dünn besiedelten Grenzgebiet, die damit zu einer Pufferzone werden sollte. Stalin hoffte zudem auf eine erstmalige wirtschaftliche Nutzung dieser Flächen, auf die sich bis dato kaum Menschen verirrt hatten.
„Sowjetisches Zion“
Sieben Zeitzonen von Moskau entfernt ließ Stalin also ein „sowjetisches Zion“ planen, in dem Juden „frei wie in Jerusalem“ sein konnten. Diese Nachricht verbreitete sich nicht nur unter den sowjetischen Juden wie ein Lauffeuer. Kommunistische Juden aus aller Herren Länder, etwa den Vereinigten Staaten, Argentinien und Bessarabien wanderten nach Birobidschan aus. Da es Juden im Zarenreich nicht erlaubt gewesen war, Ackerbau zu betreiben, wurden diese Einwanderer aus anderen Ländern dringend benötigt. Die eigens für Birobidschan gegründete amerikanische Hilfsorganisation IKOR sammelte Spenden, um Juden die Überfahrt zu ermöglichen und den Pionieren Landmaschinen zu kaufen.
Den stadtplanerischen Auftrag erhielt der der Schweizer Architekt Hannes Meyer. Der ehemalige Direktor des Dessauer Bauhauses traf mit seiner radikalen Auffassung von Architektur genau den Geschmack der Kommunisten. Von diesen, wie es damals hieß, „goldenen Jahren“ des jüdischen Lebens zeugt heute nur noch wenig. Mit den stalinistischen Säuberungen wurden die jiddischen Schulen und Theater geschlossen, jiddische Intellektuelle fielen dem Spionagewahn zum Opfer.
Während meiner Recherchen zu diesem Artikel erfuhr ich von meiner Familie, dass auch mein Großvater, Jura Borochov, im Jahr 1968 in Birobidschan gewesen war. So führte ich mit ihm das folgende Gespräch:
David: Hallo Bobo, wie hat es dich nach Birobidschan verschlagen?
JB: Als ich Anfang 30 war, habe ich begonnen, mit Stoffen zu handeln. Das Geschäft lief sehr gut, ich kam in die entlegensten Gebiete des Landes. Irgendwann hörte ich von dieser Oblast in Sibirien, wo viele Juden leben sollten. Ich dachte mir, da gebe es bestimmt etwas zu verdienen.
David: Und?
JB: Nichts! Einöde! Kaum einen Juden bekam ich zu Gesicht, von einer Textilfabrik zu schweigen. Die, die ich traf, erzählten mir, dass dieses Gebiet nur von Propaganda lebt. Dass die Gefängnisse zu Stalins Zeiten schlicht so überfüllt waren, dass er hier eine Art Freiluftgefängnis schuf. Durch die häufigen Überschwemmungen und die eiskalten Winter war der Boden außerdem sehr schwer zu bewirtschaften. Es gab an diesem Ort damals nichts Gutes, heute sieht es womöglich anders aus. Bekannte von uns besitzen dort jetzt eine Papierfabrik und meinen, es wäre nun besser da. Auch für die Juden. Dort möchte ich jedenfalls nie wieder hin.
* * *
Etwas besser dürfte es tatsächlich geworden sein. Der Birobidschaner Schtern, die frühere jiddische Zeitung, die eingestellt war, erscheint heute wieder und enthält einmal pro Woche einige Seiten auf Jiddisch. Die Stadt hat wieder eine Synagoge samt Oberrabbiner bekommen. In der jiddischen Schule und an Universität werden momentan zum Großteil Gojes unterrichtet. Aber vielleicht gibt es tatsächlich schon bald eine florierende jiddische Szene im „sibirischen Jerusalem“.