Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann ein mühsamer Neuaufbau der jüdischen Gemeinde in Österreich.
Überleben ohne Willkommen
Als im Frühjahr 1945 die Rote Armee Wien befreite, war die einst größte deutschsprachige jüdische Gemeinde fast ausgelöscht. Von den 200.000 Jüdinnen und Juden kehrten nur wenige Tausend zurück, bzw. hatten versteckt oder in Mischehen geschützt hier überlebt. Sie fanden kein Willkommen. Ihre Wohnungen waren besetzt, Geschäfte enteignet, Nachbarn begegneten ihnen mit Kälte oder offener Feindseligkeit. Österreich stilisierte sich zum „ersten Opfer“ Hitlers – und verweigerte jede Mitverantwortung. Unter diesen Bedingungen formiert sich die Israelitische Kultusgemeinde Wien (IKG) neu. David Brill wird 1946 erster Präsident, Kurt Heitler (1950 bis Mai 1951) und David Shapira (1948–1952) folgen. Rabbiner Akiba Eisenberg, Shoah-Überlebender aus Ungarn wird Oberrabbiner. Der Stadttempel in der Seitenstettengasse – die einzige nicht zerstörte Synagoge in Wien – wird zum religiösen und organisatorischen Herzstück. Ab 1947 arbeitet Simon Wiesenthal an der Aufspürung von NS-Tätern. Ab 1961 macht sein Dokumentationszentrum Wien zu einem internationalen Ort des Erinnerns – und des Unbehagens. Für viele Österreicher ist er unbequem, weil er die These des Opferstatus stört. Für die jüdische Gemeinde ist er ein Symbol der Gerechtigkeit.
Die Zeit der Displaced Persons
In den ersten Jahren prägen vor allem Displaced Persons (DPs) das Gemeindebild – Überlebende aus Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und Rumänien. Viele nutzen Wien als Durchgangsstation auf dem Weg nach Israel, die USA oder andere Länder. Manche aber bleiben aus ganz unterschiedlichen Gründen. Internationale Hilfswerke wie das Joint Distribution Committee und die UNRRA versorgen die Gemeinde mit Lebensmitteln und Medikamenten. Die IKG organisiert Suppenküchen, Waisenbetreuung, Bestattungen. Religiöses Leben kehrt langsam zurück. Österreichische Politiker äußern offen ihre Abneigung gegen eine Rückkehr von vertriebenen Jüdinnen und Juden. Emil Maurer wird Präsident (1952–1963), gefolgt von Ernst Feldsberg (1963–1970). Die B´nai B´rith Loge wird wiederbegründet. An der Universität Wien wird ein Institut für Judaistik gegründet. Das Österreichische Jüdische Museum in Eisenstadt entsteht, sowie das jüdische Elternheim, später Maimonides Zentrum benannt.
Zuwanderung
Neue Zuwanderungswellen prägen das Bild. 1956 durch den Aufstand in Ungarn,1968 nach dem „Prager Frühling“ in der Tschechoslowakei. In den 1970er/80er Jahren erhalten erste sowjetische Juden Ausreisevisa über Österreich nach Israel, manche kehren von Israel wieder zurück und siedeln sich in Wien an. Die Gemeinde wird vielfältig: aschkenasisch, orthodox, bucharisch, georgisch. Das Jewish Welcome Service wird gegründet.
Konsolidierung
Mit dem IKG-Präsidenten Anton Pick (1970–1981) endet die IKG-Vorherrschaft des Bundes Werktätiger Juden, einer Teilorganisation der SPÖ. Die Zuwanderer gewinnen zunehmend Einfluss in der IKG und stellen 1981 erstmalig mit Ivan Hacker (1981-1987) den Präsidenten. Der vom Bund jahrelang betriebene Ausverkauf der Gemeinde wird beendet. Wichtige jüdische Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen, ein Gemeindezentrum usw. werden gegründet. Die Administration der IKG kehrt in die Seitenstettengasse zurück. 1983 übernimmt Paul Chaim Eisenberg nach dem Tod seines Vaters die Stelle des Oberrabbiners und übt dieses Amt bis 2016 aus. Die Chabad-Bewegung unter der Führung von Rabbiner Jacob Biderman wird in Wien aktiv und betreut heute eine ganze Reihe von Einrichtungen, wie Kindergärten, Schulen, Jugendzentren, Lehrinstitute, Suppenküchen und eine Fachhochschule.
Terror und Waldheim
Am 29. August 1981 greifen palästinensische Terroristen während einer Bar Mizwa den Stadttempel an. Zwei Menschen sterben, mehr als 20 werden verletzt. Von nun an gehören bewaffnete Sicherheitskräfte und Zugangskontrollen zum Alltag. Am 27. Dezember 1985 attackieren Palästinenser den El-Al-Schalter am Flughafen Wien-Schwechat. Drei Menschen sterben, 40 werden verletzt. Wien muss schmerzhaft feststellen: jüdische Einrichtungen sind internationale Anschlagsziele.1986 löst die Waldheim-Affäre heftige Diskussionen über die NS-Vergangenheit aus. Bundeskanzler Vranitzky legt als erster Regierungschef ein Bekenntnis zur Mitverantwortung von Österreichern an den Nazi-Verbrechen ab. Für die Gemeinde bedeutet das eine späte, aber wichtige Wende. Paul Grosz wird 1987 Präsident der IKG und vertritt die Gemeinde bedachtsam aber mit neuer Deutlichkeit.
Restitution und Erinnerung
1993 eröffnet das Jüdische Museum Wien und wird zu einem wichtigen Ort für die Sichtbarkeit jüdischer Kultur. ESRA, das psychosoziale Zentrum wird gegründet, ebenso das Jüdische Berufliche Bildungszentrum JBBZ. Gleichzeitig beginnt Österreich, sich seiner Verantwortung zu stellen: 1995 wird der Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus gegründet, das Washingtoner Abkommen regelt die offenen Restitutionsfragen zwischen Österreich und Opferorganisationen. 1996 findet die so genannte Mauerbach-Auktion statt, herrenloses Raubgut wird verkauft, die Erlöse gehen an NS-Opfer. Eine systematische Provenienzforschung in Museen wird eingeführt.
Mahnmal und „Goldene Adele“
Im Jahr 2000 wird am Judenplatz das Holocaust-Mahnmal von Rachel Whiteread enthüllt. Es erinnert an 65.000 ermordete österreichische Jüdinnen und Juden. Beim Bau des Mahnmals werden die Überreste der mittelalterlichen Synagoge entdeckt, die seitdem im Museum Judenplatz zu besichtigen sind. 2006 sorgt der Restitutionsprozess um Klimts „Goldene Adele“ (Adele Bloch-Bauer I) für weltweite Schlagzeilen. Das Bild wird an die Erbin Maria Altmann zurückgegeben – ein Präzedenzfall, der Österreichs Umgang mit NS-Raubkunst verändert. Unter Präsident Ariel Muzicant (1998–2012) tritt die Gemeinde noch selbstbewusster auf, erhebt zusätzliche finanzielle Forderungen und wird auch politisch noch präsenter. Schulen, Kindergärten, Jugendzentren und Kulturinitiativen machen jüdisches Leben sichtbar – trotz permanenter Sicherheitskontrollen. Erwin Javor, Martin Engelberg und Danielle Spera gründen die Zeitschrift NU. Erwin Javor startet später die Plattform Mena-Watch. Die European Maccabi Games finden 2011 erstmals in Wien statt.
Sichtbarkeit und Vielfalt
Das Jüdische Museum bekommt einen zweiten Standort am Judenplatz und erhält ab 2010, unter der Leitung von Danielle Spera, neue Sichtbarkeit mit vielen internationalen Ausstellungen und Besucherrekorden. 2018 wird das von ihr initiierte Projekt Lichtzeichen der Öffentlichkeit übergeben. 25 Lichtstelen sind an den Standorten der zerstörten Wiener Synagogen zu finden. Neben der vom orthodoxen Ritus geprägten IKG etabliert sich die kleine Reform-Gemeinde Or Chadasch. Bundeskanzler Sebastian Kurz erklärt das Bekenntnis zur Sicherheit Israels zur Staatsräson. Martin Engelberg (2017-2024) wird als erstes aktives Mitglied der jüdischen Gemeinde in der Zweiten Republik, Abgeordneter zum Nationalrat. Seit 2019 ermöglicht ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz Nachkommen von Shoah-Opfern die österreichische Staatsbürgerschaft. Die IKG erhält zusätzliche substanzielle finanzielle Mittel von der Republik, im Bundeskanzleramt wird die Stabstelle zur Förderung des Österreichisch-Jüdischen Kulturerbes und Antisemitismusbekämpfung eingerichtet. 2018 wird die Shoah-Namensmauer-Gedenkstätte eingeweiht, wo der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus namentlich gedacht wird.
Vielfalt und Verwundbarkeit
Am 2. November 2020 erschüttert ein islamistischer Anschlag die Wiener Innenstadt. Auch die Seitenstettengasse wird Schauplatz der Gewalt. Nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023, bei dem mehr 1.200 Menschen brutal ermordet und 255 nach Gaza verschleppt werden, wird auf den jüdischen Teil des Zentralfriedhofs ein Anschlag verübt. Heute wird die Zahl der Jüdinnen und Juden in Österreich auf 15.000 Personen geschätzt, die IKG zählt 8.000 Mitglieder. Sie ist durch große Vielfalt geprägt: aschkenasisch, sefardisch, orthodox und liberal. Seit 2020 amtiert Rabbiner Jaron Engelmayer als Oberrabbiner. Präsident Oskar Deutsch (seit 2012) repräsentiert die Gemeinde nach außen. Die jüdische Gemeinde ist zwar weiterhin recht klein, aber bunt und verfügt über eine beeindruckende Infrastruktur, die ein vielfältiges und sehr aktives jüdisches Leben ermöglicht. Ein Symbol dafür, dass Erinnerung und Zukunft untrennbar verbunden sind.
