Unter dem Schutz von Präsident Perón konnten sich in den Nachkriegsjahren Dutzende NS-Kriegsverbrecher an den Río de la Plata flüchten. Weil das Bild vom Retter der Arbeiterklasse nicht beschmutzt werden soll, ist dem offiziellen Argentinien dieses Thema unangenehm.
Von Cornelia Mayrbäurl
Im Spanischen gibt es kein prägnantes Wort für den Begriff „Nestbeschmutzer“, der etwas umständlich als „ein Vogel, der das eigene Nest verschmutzt“ beschrieben werden muss. Ginge das einfacher, wären in Argentinien sicher schon viele auf die Idee gekommen, den Journalisten und Historiker Uki Goñi als einen genau solchen zu bezeichnen. Goñi selbst verwendet ebenfalls eine biologische Analogie, wenn er sich als „das schwarze Schaf“ seiner Familie bezeichnet, die schon in der dritten Generation Diplomaten hervorbringt.
Denn die Goñis waren nicht besonders glücklich, als Uki sein Buch über die Fluchthilfe veröffentlichte, die Argentinien unter Präsident Juan Domingo Perón Dutzenden NS-Kriegsverbrechern gewährte.(siehe Kasten). Mehrere Regierungen in Buenos Aires fanden es ebenfalls unnötig, dass da jemand genauer wissen wollte, wie Adolf Eichmann oder Erich Priebke an den Río de la Plata gelangen und sich dort in aller Ruhe niederlassen konnten: Ein heikles Kapitel für das Land im Allgemeinen, und erst recht in Bezug auf Perón und seine Evita, die wegen ihrer Verdienste um die Rechte der Arbeiter noch heute von der halben Nation vergöttert werden. „Jede Diskussion um die Person Peróns ist nach wie vor eine politische Diskussion. In Deutschland wird der Nationalsozialismus historisch erforscht, aber argentinische Historiker getrauen sich immer noch nicht an Perón heran, weil sie nicht ins politische Minenfeld geraten wollen“, erklärt Uki Goñi.
Schuld an Ukis Neugier war sein Großvater Santos Goñi, der Argentinien als Konsul vertrat: von 1927 bis 1932 in Wien, später in Genua und in Boliviens Hauptstadt La Paz. Ausgerechnet La Paz, von wo aus viele Juden versuchten, nach Argentinien zu gelangen. Zwar starb der Großvater schon ein Jahr nach Ukis Geburt, aber er erzählte seinem Sohn, der damals das Theresianum besuchte und den herrschenden Antisemitismus beobachtete, ein Staatsgeheimnis, welches schließlich auch der Enkel erfuhr. Freilich sollte der vertrauliche Inhalt strikt innerhalb der Familie bleiben: Es gab, so wusste Santos Goñi, ein Dekret des Außenministers, wonach im Einwanderungsland Argentinien keine Juden mehr aufgenommen werden sollten. Im Unterschied zu anderen Diplomaten, die darin eine günstige Gelegenheit erkannten, sich bestechen zu lassen, hielt sich Santos Goñi an das Dekret, eben auch als Konsul in La Paz.
Ukis Suche nach diesem Dekret, das er trotz der Haltung seines Großvaters als Schande empfand und von dem in Buenos Aires niemand etwas wusste oder wissen wollte, dauerte Jahre. Sie war Teil seines Ziels, seriös zu erforschen, was Argentinien dazu beigetragen hatte, so viele NS-Kriegsverbrecher ins Land zu holen – eine Aufgabe, die noch niemand wahrgenommen hatte. Sie passte dazu, dass Uki Goñi auch die Aufarbeitung der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 als unzureichend empfand und immer noch empfindet: „Jeder Argentinier trägt eine vorgefertigte Version der Geschichte des Landes mit sich herum, die nach den jeweiligen Bedürfnissen modelliert ist. Es gibt eine Version für den eingefleischten Peronisten, eine andere für den nationalistischen Katholiken; eine für die Opfer der Massaker von 1976 bis 1983 und eine andere für die, welche vor dem alltäglichen Horror die Augen verschlossen hatten“, schreibt er im Vorwort zu seinem Buch.
Zurück ins Argentinien der 30er Jahre, damals eines der reichsten Länder der Welt. Eine Reihe von Militärdiktaturen strebte damals eine „Allianz des Kreuzes und des Schwerts“ an; die Bande der „Rasse“, des Glaubens und der Sprache mit Spanien und mit der Diktatur Francos wurden herausgestrichen. Argentinien sollte von einer säkularen Republik in eine hispanische „Katholische Nation“ verwandelt werden, die ein Gegengewicht zu ihrem „materialistischen“ nördlichen Nachbarn, den „angelsächsischen“ USA, bilden sollte. Vor diesem ideologischen Hintergrund verfasste der Außenminister 1938 ein geheimes Rundschreiben, wonach „jeder Person, von der aus guten Gründen anzunehmen ist, dass sie ihr Herkunftsland als unerwünscht oder ausgewiesen verlässt“, das Visum zu verweigern ist.
War nun General Juan Domingo Perón selbst, der ab 1943 als Arbeitsminister fortschrittliche Sozialgesetze einführte und schließlich im Februar 1946 zum Präsidenten gewählt wurde, selbst Antisemit? Politisch vertrat Perón eine so genannte „dritte Position“, die sowohl Kapitalismus als auch Kommunismus ablehnte. Sie enthielt soziale und nationale Elemente sowie stark korporatistische Züge: Vor seinem politischen Aufstieg in Argentinien war er als Militärattaché bei Mussolinis faschistischer Regierung in Rom akkreditiert gewesen. Sicher ist, dass Perón die Nürnberger Prozesse als „infam“ ablehnte. Argentinien hatte sich während des Zweiten Weltkriegs übrigens als neutral erklärt, bis es auf Druck der Alliierten erst am 27. März 1945 Japan und Deutschland – „als Japans Verbündetem“ – den Krieg erklärte.
Heute noch mehr als damals ist Peronismus ein unscharfer Begriff, in den jeder, der sich Peronist nennt, beinahe alles hineininterpretieren kann. Es ist daher nicht unplausibel anzunehmen, Perón habe mit seinen offenen Armen für Nazi-Schergen, die zum Teil über beträchtliches Know-how verfügten, schlicht und einfach opportunistisch gehandelt. Denn gleichzeitig bekundete Perón immer wieder seine Sympathie für Israel und erkannte den jungen Staat schnell an. Aber auch die These, der General und dreimalige Präsident, nach dem sich Argentiniens größte politische Gruppierung benennt, sei ein Fähnchen im Wind gewesen, ist nicht eben eine, die die Öffentlichkeit genauer vor Augen geführt bekommen möchte. Nicht einmal jener Teil, der etwas am Umgang mit der Vergangenheit ändern könnte.
Einerseits, so sagt Uki Goñi, sei sein Buch von den Medien besprochen worden und verkaufe sich auch gut. Andererseits: Keine Einladungen zu Lesungen Schulen gelehrt würde, was damals geschehen ist, ist undenkbar“. Goñi sieht als Ursache dafür einen Nationalismus sowohl der Rechten wie der Linken in Argentinien. „Jede Kritik an Perón wird sofort als imperialistische nordamerikanische Propaganda eingestuft, als ein Angriff des Kapitalismus gegen den General.“ Tatsächlich geht aus Umfragen regelmäßig hervor, dass die „yanquís“ (Yankees) nirgendwo sonst in Südamerika so heftig abgelehnt werden wie in Buenos Aires.
Wie wenig das offizielle Argentinien daran interessiert war, Genaueres über die „Rattenlinie“ der fliehenden NS-Verbrecher an den Río de la Plata zu erfahren, zeigt die schwierige Suche nach den entsprechenden Dokumenten. 1992 verkündete der damalige Präsident Carlos Menem die Öffnung der „Nazi-Archive“, um die Wahrheit hinter den Gerüchten einer Allianz zwischen Perón und Hitler herauszufinden. Mehr als einige Dossiers, die zumeist aus Zeitungsausschnitten bestanden, bekamen die Forscher aber nicht in die Hände, und die These, die Nazis hätten ihre Flucht individuell organisiert, verfestigte sich. Als Uki Goñi seine Suche nach dem geheimen Erlass gegen die jüdische Einwanderung begann, bekam er zu hören, dass beim Putsch gegen Perón 1955 wichtige Unterlagen verbrannt worden seien – genauso wie noch 1996 vertrauliche Dossiers der Einwanderungsbehörde, deren Archiv die Einreisepapiere der NS-Verbrecher erhielt. „Odessa. Die wahre Geschichte“ beruht daher vor allem auf belgischen, britischen, Schweizer und USDokumenten, die der Autor jahrelang zusammentrug.
1999 gab die argentinische Regierung einen von einer Historikerkommission erarbeiteten Bericht heraus, mit dem die leidige Diskussion über die Einreise der Nazis endgültig beendet werden sollte. „Darin geht es um Dinge wie den Einfluss der Nazis auf die Literatur in Argentinien“, merkt Uki Goñi dazu an. Von der antisemitischen Anordnung aus dem Jahr 1938 kein Wort – obwohl die Historikerin Beatriz Gurevich eine Kopie im Archiv der argentinischen Botschaft in Stockholm gefunden hatte. Das Dekret sollte weiter totgeschwiegen werden. Gurevich stimmte schließlich zu, es in der englischen Originalausgabe von „Odessa“ zu veröffentlichen.
Bis heute fordert Uki Goñi vergebens, die Regierung möge gut 50 Geheimdokumente endlich freigeben, die meisten davon Dossiers der Einwanderungsbehörde. Denn Goñi weiß zwar, dass das Aktenzeichen des Einwanderungsdossiers von Adolf Eichmann 231489/48 lautet, der Akt selbst ist aber nach wie vor unter Verschluss.
Aufgrund des Drucks internationaler Medien wie der „New York Times“ erlaubte die Regierung in Buenos Aires 2003 die Einsicht wenigstens in zwei Einwanderungsdossiers. Eines davon belegt, wie Perón und ein argentinischer Kardinal im Vatikan bei der Einreise kroatischer Massenmörder zusammengearbeitet haben. „Der Beamte, der angewiesen worden war, mir die Akte vorzulegen, reagierte äußerst betroffen … ,Sie wird das Ansehen des Generals Perón beschädigen‘, jammerte er, wobei ihm buchstäblich eine Träne über die Wange lief. Für den alten Peronisten, der sein Büro mit Fotos Evitas geschmückt hatte, war es ein qualvoller Anblick“, beschreibt Goñi den Moment der Einsichtnahme.
Es gäbe also wohl noch einiges zu finden im Archiv der Einwanderungsbehörde, die sich direkt am Becken des alten Hafens von Buenos Aires befindet. Auf dem gleichen Areal liegt auch das prächtige „Hotel des Inmigrantes“, die erste Station der Einwanderer in Argentinien, das ja Millionen an unbescholtenen Europäern – die meiste Zeit ungeachtet ihrer Religion – aufgenommen hat: eine enorme Leistung, die nicht unterschlagen werden soll. Heute lebt in Argentinien die angeblich fünftgrößte jüdische Gemeinde weltweit.
Seine Motivation für die Suche nach der Wahrheit, schreibt Uki Goñi, sei keinesfalls eine spezielle Animosität gegenüber Juan Domingo Perón gewesen. Aber vielleicht wurde ihm die Beschäftigung mit dem Caudillo schon in die Wiege gelegt: Goñi wurde als Diplomatenkind in Washington an einem 17. Oktober geboren, jenem Tag, der jährlich als „Tag der peronistischen Treue“ gefeiert wird. Als rivalisierende Militärs den Minister Perón 1945 aus der Regierung warfen, erzwangen die Arbeitermassen am 17. Oktober auf der Plaza de Mayo die Rückberufung ihres Helden. In Ukis Geburtsjahr 1953 war Perón auf dem Höhepunkt seiner Macht: „Meine Eltern hörten dauernd, sie sollten mich doch Juan Domingo taufen.“
Uki Goñi
Odessa, die wahre Geschichte
Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher
Berlin/Hamburg, Juni 2006
aus dem Englischen von Theo Bruns und Stefanie Graefe
ISBN 978-3-935936-40-8
In englischer Sprache bereits 2002 veröffentlicht
Der Publizist Uki Goñi gilt in Argentinien als Nestbeschmutzer, weil er unermüdlich die Schattenseiten der argentinischen Zeitgeschichte dokumentiert. Bis heute fordert Uki Goñi vergebens, die Regierung möge gut 50 Geheimdokumente endlich freigeben, die meisten davon Dossiers der Einwanderungsbehörde. Denn Goñi weiß zwar, dass das Aktenzeichen des Einwanderungsdossiers von Adolf Eichmann 231489/48 lautet, der Akt selbst ist aber nach wie vor unter Verschluss.