Religion ist ein großes Thema, nicht nur, wenn es um den Islam geht. Es wäre an der Zeit, dass sich Europa auf seine säkulare Tradition besinnt.
Von Herbert Voglmayr
Die Auseinandersetzung um den Einfluss der Religion auf die Politik nimmt derzeit großen Raum in der öffentlichen Debatte ein. Dabei liegt das Problem weniger im Bekenntnis zu einer Religion als im Fanatismus, mit dem Andersgläubige bekämpft werden, sei deren Bekenntnis nun religiöser oder anderer Natur. Besorgniserregend sind nicht nur der Terror im Namen des Islam oder die rassistischen Tendenzen in der Flüchtlingspolitik einiger europäischer Länder, sondern auch die vehementen Versuche mancher christlicher Politiker, einen Gottesbezug in die europäische Verfassung zu schreiben oder die Evolutionstheorie aus US-amerikanischen Schulen zu verbannen, weil das Dogma von der Erschaffung des Menschen durch Gott nicht in Frage gestellt werden soll. Solch restaurative Tendenzen, welche die Trennung von Kirche und Staat, ein wichtiges Erbe der europäischen Aufklärung, tendenziell wieder rückgängig machen wollen, wurden von einem französischen Soziologen als „Revanche de Dieu“ bezeichnet.
Der Ausdruck ist insofern treffend, als er eine Gegenbewegung ausdrückt zur Entwicklung der modernen europäischen Gesellschaften, die entstanden sind aus der Konfrontation zwischen einem einerseits absolutistischen Staatsverständnis, das auf der Einheit von Thron und Altar basierte und sich aus dem Gottesgnadentum der absolutistischen Machthaber legitimierte, und andererseits der Bewegung der Aufklärung, die ebendiese Legitimation in Frage stellte und von jeder Herrschaft verlangte, sich vor dem Urteil der Vernunft zu rechtfertigen. Entlang dieser Auseinandersetzungen hat sich das moderne Europa entwickelt, das Europa der Trennung von Kirche und Staat, der parlamentarischen Demokratie, des Rechtsstaates, der Pressefreiheit, der Menschenrechte.
Im Judentum ist diese Entwicklung ähnlich und doch anders verlaufen, weil hier die Religion nie mit einer Staatsmacht verbunden war wie im Katholizismus – jedenfalls bis zur Gründung Israels und wenn man von der biblischen Zeit absieht. Aber die Diskussion um die rituellen Gesetze der religiösen Orthodoxie hat zur Entwicklung dessen geführt, was man heute als Reformjudentum oder liberales Judentum bezeichnet. Wie sehr das Judentum mit der Aufklärung verbunden war, zeigt sich etwa am Ausspruch des jüdischen Aufklärungs-Philosophen Moses Mendelssohn (1729–1786), der die zweifelnde und fragende Ratio, die Offenheit gegenüber kritischem Denken als Gründe dafür nannte, Jude zu bleiben und nicht zum Christentum zu konvertieren, das von vernunftfernen Dogmen beherrscht werde. Mit Mendelssohn (der übrigens Lessing als Vorbild für sein Drama „Nathan der Weise“ diente) kann man auch die Frage stellen, warum der jüdische Anteil am modernen Europa einfach ausgeblendet wird, wenn immer vom christlichen Abendland gesprochen wird.
Ohne die eminente Rolle des Christentums für die Herausbildung Europas leugnen zu wollen, muss man sagen, dass sich in der Rede vom christlichen Abendland ein kultureller Hegemonieanspruch vor allem des Katholizismus ausdrückt, der andere Einflüsse wie den der Aufklärung, des Judentums und auch des Islams negiert und bedenklich stimmt, wenn er „das“ christliche Europa „dem“ Islam gegenüberstellt, so wie es allzu oft „dem“ Judentum gegenübergestellt wurde. Das fördert Denkweisen, die in Richtung totalitärer, menschenverachtender Gesellschaftskonzepte gehen und die Vielfalt untergraben, durch die Europa heute charakterisiert ist. Historisch gesehen waren die Blütezeiten Europas immer mit einem interreligiösen und interkulturellem Austausch verbunden, wie etwa zur Zeit der Renaissance in Italien oder während des Mittelalters im maurischen Spanien, das nicht nur von einem friedlichen Miteinander von Moslems, Christen und Juden geprägt war, sondern auch kulturell und wissenschaftlich eine enorm fruchtbare Periode darstellte.
Statt das aufgeklärte europäische Erbe durch Orthodoxien oder gar militante Religiosität zu gefährden, sollte man den Herausforderungen des neuen Jahrhunderts mit kritischer Vernunft begegnen, damit es nicht wieder entarte zu einem „Wolfshund- Jahrhundert“ (Ossip Mandelstam über das 20. Jahrhundert). Die Globalisierung etwa ist zwar nicht neu, hat aber durch die auf den Weltmarkt drängenden Schwellenländer, wie China und Indien, sowie die neuen Informationstechnologien an Intensität zugenommen. Das Problem ist dabei weniger die Entwicklung an sich, als die Tatsache, dass sie von neoliberalen Wirtschaftskonzepten beherrscht wird, die der Ideologie einer Art Marktfundamentalismus folgen und die gesellschaftliche Verantwortung wirtschaftlichen Handelns hintanstellen. Die damit einhergehende Zerstörung sozialer Gefüge führt viele Menschen dazu, ihre Sehnsucht nach spiritueller, nach geistig-sinnlicher Erfüllung – für die sie bei den etablierten Religionen keine ausreichenden Antworten finden – in esoterischen Privatreligionen zu suchen, die oft mehr mit Aberglauben als mit Religion zu tun haben. W.H. Auden hat das in knappen zwei Zeilen so formuliert: „Man is no centre of the universe, and working in an office makes it worse.“
Religion erhebt den Anspruch, den ganzen Menschen im Blick zu haben und Fragen zu beantworten, die im realen Leben keine Antwort finden. Dasselbe tut die Kunst, die in symbolischer Sprache auszudrücken versucht, was rational nicht fassbar ist. Ob derartige Fragen ihre Antworten nun in einer jenseitigen Welt oder aber in einer geistig-sinnlichen Dimension der diesseitigen Welt finden, hängt vom Glauben ab. Wenn sich Religion aber ihrem Wortsinn gemäß in einer Religio, also einer Rückbindung an einen mythischen Urzustand, an einen Gott der Schöpfung abschließt und sich kritischem Denken nicht öffnet, dann erstarrt sie in Orthodoxie, die nur allzuleicht zu Fanatismus führt und alles bekämpft, was nicht der eigenen Weltdeutung folgt. Die Orientierung am Unendlichen kann daran hindern, einen Sinn für das menschliche Maß zu entwickeln. Schon die Blitzableiter auf den Kirchen müssten einem zu denken geben, sagte Georg Christoph Lichtenberg, denn nur in einer mit Blitzableiter ausgestatteten Kirche sei man vor dem Himmel sicher. Nicht nur im Judentum, aber gerade da, ist neben der Genesis auch der Exodus von zentraler Bedeutung. Der Auszug aus Ägypten kann wohl als Beginn der Identitätsbildung des jüdischen Volkes gelten. Der Exodus-Gedanke und das Gottesbild des „Ich werde sein, der ich sein werde“ ist aber nicht Religion im Sinne von Re-ligio, sondern Aufklärung im Sinne des 18. Jahrhunderts, sowie ein Beispiel dafür, dass die Aufklärung nicht erst mit Descartes oder Kant, sondern schon mit dem antiken Mythos beginnt. Der Mythos ist selbst schon ein Stück Aufklärung, der in symbolischen Bildern die Auseinandersetzung des Menschen mit der gewaltigen Natur und die Scheidung des menschlichen Subjekts von der ihn umgebenden Natur darstellt, im Falle des Auszugs aus Ägypten, die Scheidung von der Knechtschaft in einem despotischen Staat.
Die zahllosen Schismen der Religionsgeschichte, die alte Weltdeutungen durch neue ersetzen, erreichen in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts einen Höhepunkt. Religionskritik und Entmythologisierung werden ins Zentrum des Denkens gerückt und bringen die rationale Moderne mit ihrem naturwissenschaftlich geprägten Weltbild hervor. Das drückt sich etwa in dem Goethe-Wort aus: „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, der hat auch Religion, wer diese beiden nicht besitzt, der habe Religion.“ Ingeborg Bachmann spricht von der Literatur als Vermittlerin zwischen den Welten. Für Sigmund Freud werden die kollektiven Erfahrungen der Urgeschichte im Unbewussten gesammelt und kehren nach einer Latenzzeit im Gewand religiöser Vorstellungen in entstellter Form wieder. Religion ist nach Freud ein notwendiges, wenn auch infantil-illusorisches Stadium in der Entwicklung der menschlichen Kultur, das von jedem Menschen in seiner individuellen Entwicklung neu zu durchleben sei und das es zu überwinden gelte, um zu einem Erwachsenendasein zu kommen, das nicht von kindlichen Illusionen, sondern von realitätsbezogenem Denken geprägt ist.
Novalis zufolge ist alle Philosophie Heimweh, womit er über den gängigen Heimatbegriff hinausweist, der an Sesshaftigkeit und Eigentum gebunden ist, und dessen Paradoxie darin liegt, dass Besitz und Sesshaftigkeit zwar Heimat vermitteln, aber auch die Entfremdung des Menschen begründen und die Sehnsucht nach einem paradiesischen Urzustand auslösen, der unwiederbringlich verloren ist. Heimweh im Sinne des Novalis dagegen, hat neben der Überwindung von Entfremdung, auch die Befreiung aus dem mythischen Anfang zum Inhalt. Es meint Entronnensein, meint Emanzipation von Gewalten, die der Selbstwerdung des Menschen im Wege stehen und daher die Sehnsucht nach Abenteuern entbinden, durch die Subjektivität gebildet und Freiheit erworben wird. Diesen Heimat-Gedanken des Novalis kann man auch im Sinne politischer Utopie verstehen, in der es um die Befreiung von Barbarei und die Emanzipation von Herrschaft geht, um den Kampf für eine Gesellschaft, in der Herrschaft nicht mehr da ist, um den Menschen Gewalt anzutun, sondern sie mit den Notwendigkeiten gesellschaftlichen Zusammenlebens zu versöhnen, „gerettet, nicht gerichtet vom Gesetz“ (W.H. Auden) einer aufgeklärten, solidarischen Gesellschaft, die sich in kritischer Selbstbesinnung vom barbarischen Erbe ihrer Herrschaft emanzipiert hat.