Warum meine Tochter eine echte Bat Mitzwah feierte — und was die Wiener Juden daraus lernen könnten.
Von Eric Frey
PRO Im vergangenen September unternahm meine 13 Jahre alte Tochter Isabel die erste wirkliche Rebellion in ihrem Leben: Sie feierte ihre Bat Mitzwah. Sie erhiehlt ihre Aliyah und las aus der Thora wie alle ihre gleichaltrigen jüdischen Freunde – und demonstrierte damit eine Gleichheit, die, zumindest in den Augen ihres stolzen Vaters, der kleinen jüdischen Gemeinde in Wien helfen könnte, etwas offener und toleranter zu werden.
Denn was in den USA und in vielen anderen Ländern als normales und freudiges Fest angesehen wird, ist in Österreich immer noch ein kühner, trotziger Akt. Wie in den meisten anderen jüdischen Gemeinschaften in Europa ist auch in Wien die Prä-Holocaust-Tradition der großen, reformorientierten Gruppen verloren gegangen. Liberale Gruppierungen existieren nur am Rand der Jüdischen Gesellschaft und werden von den traditionellen Juden marginalisiert. Die meisten orthodoxen Bat-Mitzwah- Feiern bestehen aus Gebeten und einem großen Fest, aber nicht aus einer Thora-Lesung.
Die Treue der österreichischen Juden zur Orthodoxie spiegelt keine besondere Religiosität wider. Die meisten Juden in Wien, Frankfurt oder Berlin essen nicht koscher oder halten sich an den Schabbat. Viele gehen nur zwei Mal im Jahr in die Synagoge, zu Rosh Hashanah und zu Yom Kippur. Aber bei diesen Gelegenheiten bestehen sie darauf, dass die Riten und Gebete so gehalten werden, wie sie auch schon von den Eltern und Großeltern gehalten wurden – wobei die Frauen separat sitzen, meistens oben am Balkon. Die meisten Angehörigen österreichischer oder deutscher Juden betrachten mit Unverständnis und beinahe Geringschätzung die Bemühungen liberaler Juden, Geschlechtergerechtigkeit und andere moderne Elemente ins religiöse Leben einzuführen. Es ist ihnen zwar bewusst, dass die meisten amerikanischen Juden Mitglieder von nicht-orthodoxen Synagogen sind, aber in ihrem eigenen Schrebergarten sehen sie progressives Judentum als eine Art Frevel an.
Meine Tochter war nicht alleine mit ihrem religiösen Bemühen. Als ich unter den rund 8.000 Wiener Juden aufwuchs, besuchte meine Familie den großen orthodoxen Tempel. Aber während meiner Studien in Princeton lernte ich die konservativen Gottesdienste kennen und schätzen. Meine Eltern waren von Anfang an, seit 1990, in der kleinen liberalen Gruppe Or Chadash aktiv. Die meisten ihrer Mitglieder sind entweder Amerikaner, die auf Zeit in Wien leben, Juden aus Wien mit Frauen, die sich in der orthodoxen Gemeinschaft isoliert fühlen, oder Konvertierte, die sich von keinem der orthodoxen Rabbiner willkommen geheißen fühlten und stattdessen einen liberalen Weg gewählt haben. Für meine Familie und mich war die Möglichkeit, gemeinsam den Gottesdienst zu besuchen und Frauen die Thora lesen zu lassen der Hauptgrund, sich zugehörig zu fühlen.
Als dann das Datum von Isabels Bat Mitzwah näherrückte, unterstützten wir sie voll und bestärkten sie, als sie sich entschied, das ganze Lernen und Vorbereiten für die Aliyah auf sich zu nehmen. Als sie fertig war, verkündete sie selbstbewusst den rund 250 Gästen, von denen viele eine Frau bei der Thora das erste Mal sahen: „Wir sollten wenig im Judentum ändern, nur das, was offensichtlich verändert gehört. Und dass Männer und Frauen gleichberechtigt sein sollen, ist offensichtlich für mich.“ Glücklicherweise haben Wiens liberale und gemäßigt orthodoxe Juden einen Weg gefunden miteinander auszukommen – dank eines weltoffenen Oberrabbiners und eines pragmatischen Präsidenten der Kultusgemeinde.
Es gibt keine gröberen Konflikte, aber auch wenig Interaktion. Und weil die Kultusgemeinde sich weigert, liberale Konvertiten, die durch einen Or-Chadasch- Rabbi vollzogen wurden, anzuerkennen, wächst die Kluft zwischen den beiden Gruppen. In Deutschland konnte ein Konflikt um staatliche Zuwendungen an jüdische Institutionen, der vor einigen Jahren zwischen dem Zentralrat der Juden und der Union der progressiven Juden ausgebrochen war, schnell beigelegt werden. Aber weil das jüdische Leben in eine eher religiöse, in manchen Fällen sogar fundamentalistische Richtung geht, scheint die Toleranz abzunehmen. Bei jüdischen Veranstaltungen wird die Trennung von Männern und Frauen zunehmend häufig. Die gleichen jüdischen Spitzenrepräsentanten, die vor dem Islamismus warnen, attackieren manchmal ihre jüdischen Kollegen mit etwas, was man nur als religiösen Eifer beschreiben kann, weil sie es wagen, von der Halacha abzuweichen.
In Österreich und Deutschland wachsen jene Gruppierungen am schnellsten, die von der Chabad- Bewegung unterstützt werden. Ultra-orthodoxe Führer scheinen hier junge Juden zu bevorzugen, die ihre Religion lieber komplett aufgeben, als die Lehren ihrer Vorfahren zu verfälschen. Aber nachdem sich die Assimilierung auch in Europa ausweitet, gibt es eine erhöhte Nachfrage nach Orten, an denen sich Juden willkommen fühlen, auch wenn sie nicht den höchsten religiösen Standards genügen – weil sie einen nicht-jüdischen Elternteil haben, weil sie eine nicht-jüdische Ehefrau haben, weil sie einen Diskussionsprozess suchen, der frei von der Heuchelei des Lobs für ein orthodoxes Leben ist, oder weil sie es einfach wollen. Die jüdische Gemeinschaft in Wien ist zu klein, um auch nur ein einziges Mitglied zu verlieren.
Vielleicht werden nach der Bat Mitzwah meiner Tochter ein paar meiner traditionellen Freunde die Vorteile des liberalen Judentums verstehen und es als legitime Form des Glaubens akzeptieren. Das wäre das schönste Bat Mitzwah Geschenk. Nicht nur für meine Familie, sondern für die Gemeinschaft als Ganzes.