Israels Wirtschaft hat seit der Staatsgründung eine beispiellose Entwicklung durchlaufen – und erweist sich auch im Krieg als robust.
Von Hedi Schneid
Es war 1857, fast 100 Jahre vor der Gründung des israelischen Staates, als der in London lebende Sir Moses Montefiore außerhalb der Stadtmauer Jerusalems eine große Windmühle bauen ließ. Sie gab den Siedlern Wasser und damit Arbeit und eine Lebensgrundlage. Die Windmühle gibt es immer noch. Sie ist, restauriert, inzwischen ein Museum und Wahrzeichen Jerusalems. Vor allem aber steht sie für den Beginn einer beispiellosen wirtschaftlichen Entwicklung eines kleinen Landes, das von Feinden umgeben und nicht gerade mit reichem Ackerland, Wasser, Bodenschätzen und fossilen Energieträgern gesegnet ist.
Der Start des jungen Staates war in der Tat hart. Denn nach der Unabhängigkeitserklärung und Staatsgründung 1948 ging es nicht nur um die Aufrechterhaltung der Sicherheit – zumal das Land rundherum von Frontlinien begrenzt war. Es musste auch erst eine funktionierende Infrastruktur aufgebaut werden. Die Wirtschaft war agrarisch geprägt, die Einwanderer, die vielfach in Kibbuzim lebten, rangen dem kargen Boden jede Pflanze mühsam ab. Mit ausländischer Wirtschaftshilfe – vor allem aus den USA, aber auch aus Deutschland (drei Milliarden D-Mark flossen als Entschädigung für die Shoah-Opfer in Form von Waren-, Dienstleistungs- und Geldtransfers) – konnte sich Israel sukzessive von Lebensmittelimporten unabhängig machen.
Das Land war, um einen modernen Begriff zu bemühen, als Ganzes ein Start-up. Dass Israel einmal tatsächlich das Eldorado für Firmengründer schlechthin werden sollte, war in den 1950er- und 1960er-Jahren noch nicht einmal eine Vision. Denn vorerst galt es, neben der Landwirtschaft eine Industrie aufzubauen. Dazu gehörte unter anderem die Produktion von Textilien und Baustoffen, aber auch die Diamanten-Schleiferei – ein bis heute sehr einträgliches Geschäft. Der Export geschliffener Diamanten zählt zu den wichtigsten Außenhandelsgütern.
Bekannt war Israel in den 1960- und 1970er-Jahren auch in Europa durch ein Agrarprodukt: Die Jaffa-Orange. Sie war der erste israelische Exportschlager. Bildete der Orangenanbau nach dem Krieg ein „bahnbrechendes Projekt der Arbeiterbewegung“, so machten moderne Anbau- und Veredelungsmethoden die Zitrusfrüchte-Produktion im Laufe der Jahre international wettbewerbsfähig. Obwohl heutzutage IT- und Dienstleistungen sowie Industriewaren den Außenhandel dominieren, exportiert Israel nach wie vor Zitrusfrüchte. Wobei Hightech und Künstliche Intelligenz die klimatischen Nachteile wettmachen. Agrarprodukte machen dennoch nur mehr einen geringen Prozentsatz der Exporte aus.
Der Sechstage-Krieg 1967 brachte nicht nur Gebietsgewinne, sondern auch dringend benötigtes Wasser von den Golanhöhen, mit dessen Hilfe wiederum die Anbaumöglichkeiten verbessert werden konnten. Gleichzeitig wurde in den 1970er-Jahren eine eigene Rüstungsindustrie aufgebaut, um die Abhängigkeit von ausländischen Lieferanten und die Überlegenheit der arabischen Nachbarn zu reduzieren. Der Jom-Kippur-Krieg 1973 und dann die Ölkrise setzten der wirtschaftlichen Entwicklung erneut schwer zu, aber schon 1975 schloss die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mit Israel als erstem nichteuropäischem Staat ein Freihandelsabkommen. 1985 folgten die USA mit einem ebensolchen Pakt.
Just in diesen Jahren kam die nächste Krise: Infolge der islamischen Revolution im Iran kam es zum Abbruch der Beziehungen mit dem einst wichtigen Öllieferanten. Gleichzeitig brach der Rüstungsmarkt weltweit ein, die Preise für Rohstoffe explodierten. Die Kosten für Militär und Rüstung sowie die Subventionen für die Siedlungspolitik erhöhten zusätzlich das Budgetdefizit. 1984 erreichte die Inflation katastrophale 450 Prozent. Das darauf von der Regierung eingeleitete Stabilisierungsprogramm mit einer radikalen Währungsreform, Marktöffnung, Privatisierung staatlicher Unternehmen sowie genereller Deregulierung brachte den Um- und Aufschwung und markierte den Aufstieg Israels zu einer modernen Wirtschaftsmacht, die sich wieder auf dem internationalen Parkett bewähren konnte.
Ein ganz wichtiger Faktor: Zwischen 1989 und 2010 kamen rund eine Million Einwanderer ins Land – vornehmlich aus der ehemaligen Sowjetunion und anderen osteuropäischen Staaten. Diese hatten Großteils ein hohes Bildungsniveau, waren Wissenschaftler, Ärzte und Techniker und bildeten damit das enorme Reservoir für die Entwicklung einer Hightech-Industrie, die zum wichtigsten Sektor der israelischen Wirtschaft überhaupt werden sollte. Allein von 2017 bis 2024 stieg der Hightech-Anteil am israelischen BIP laut Angaben der Innovation Authority von 13,8 auf 21,9 Prozent. 53 Prozent der israelischen Exporte kommen inzwischen aus dem Hightech-Sektor.
Die zweite Intifada von 2000 bis 2005 stürzte das Land zwar erneut in eine tiefe Krise, zumal auch der Tourismus – inzwischen ein wichtiger Devisenbringer – einbrach. Doch der schon in den Jahren zuvor vollzogene Wandel von einer arbeits- zu einer wissensintensiven Wirtschaft ermöglichte erneut die Rückkehr auf den Wachstumspfad. Die enorm hohen Investitionen in Forschung und Entwicklung – gemessen am Bruttoinlandsprodukt liegt Israel mit rund sechs Prozent weltweit an der Spitze – machten und machen sich dabei besonders bezahlt.
Israel wurde zu einem Symbol für Innovationskraft, wobei der Pioniergeist der Anfangsjahre bis heute einer der Erfolgsfaktoren ist, betont der österreichische Wirtschaftsdelegierte in Tel Aviv, Markus Haas, im Gespräch mit NU: „Mangels Ressourcen und aufgrund des schwierigen Umfelds mussten die Menschen immer erfinderisch sein – daraus resultiert bis heute die Einstellung: ‚Wir können das‘“, beschreibt Haas die Mentalität. Hinzu kommt die hohe Qualität der Universitäten und generell das hohe Ausbildungsniveau der Bevölkerung. Mit 8.200 Beschäftigten pro eine Million Einwohner verfügt Israel über etwa doppelt so viele Wissenschaftler in Forschung und Entwicklung wie die USA oder Deutschland. Darüber hinaus gibt es eine gezielte finanzielle Technologieförderung aus dem In- und Ausland in Form von Risikokapital.
Eine besondere Rolle spielt das Militär mit seinem hohen Innovationsdruck: „Es ist zu einer Kaderschmiede für Unternehmer und Gründer geworden“, so Haas.
Stichwort Gründer: All diese Faktoren – und mehrere gezielte Förderprogramme der Regierung, die ausländischen Venture-Capital-Gebern auch steuerliche Anreize bot und selbst große Summen in Initiativen pumpte – lösten seit Mitte der 1990er-Jahre einen beispiellosen Gründerboom aus, der bis heute anhält – trotz des Krieges in Gaza und dem Libanon. „Die Investitionen in israelische Start-ups verfünffachten sich im letzten Jahrzehnt. Zwischen 2015 und 2024 flossen fast 95 Milliarden Dollar in diesen Bereich“, heißt es im aktuellen Branchenprofil Israel des Außenwirtschaftscenters Tel Aviv. Haas schätzt die Zahl der Hightech-Companies auf rund 8.800, wobei es immer ein Auf und Ab gebe. Damit weist Israel, gemessen an der Bevölkerungszahl, die zweithöchste Dichte an Start-ups nach dem kalifornischen Silicon Valley auf. Kein Wunder, dass die Region rund um Tel Aviv in Anlehnung an die USA „Silicon Wadi“ genannt wird. Inzwischen gibt es Start-up-Cluster auch in und um andere Städte wie Rechovot, Haifa, in den Industriezonen um Jerusalem sowie in Be’er Schewa und Qiriat Gat.
Die rekordverdächtige Start-up-Szene weist noch einen weiteren Spitzenwert aus: Mit Ende 2024 gab es bereits rund 100 Unicorns – Firmen, deren Wert im Rahmen von Finanzierungsrunden mehr als eine Milliarde Dollar erreicht hat. Eines dieser „Einhörner“ ist inzwischen auch in Österreich bekannt. „Dream“, so der Name der Firma, wurde 2023 von Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz, dem israelischen Unternehmer Shalev Hulio und dem Computeringenieur Gil Dolev gegründet. Das Unternehmen, das jüngst die US-Gesellschaft Bain Capital als Investor gewann und 100 Millionen Dollar erhielt, ist auf Cybersecurity spezialisiert. Denn Cyberangriffe seien mittlerweile die kritischsten Aspekte in Kriegen, betonte Kurz, als er im Frühjahr seine Firma, an der er 15 Prozent besitzt, in Wien vorstellte.
Cybersecurity zählt denn auch zu den Schwerpunkten der israelischen Gründerszene, schließlich bildet sie auch einen wichtigen Bereich der eigenen Landesverteidigung. So hat die Regierung in Be’er Scheva das Computer Emergency Response Team angesiedelt, das Cyberangriffe ausfindig machen und darauf reagieren soll. Weitere Schwerpunkte der Start-ups sind Künstliche Intelligenz, Digital Health und FinTech, sowie Energieversorgung und-effizienz. Abgesehen vom Geld und dem Hirnschmalz der Mitarbeiter profitieren die Start-ups auch vom Austausch mit Großkonzernen von Apple bis Samsung, die in Israel Niederlassungen haben. Die Multis betreiben hier rund 350 F&E-Zentren.
Keine Frage: Die vom Terror-Massaker der Hamas ausgelöste militärische Auseinandersetzung in Gaza trifft das Land nicht nur politisch und menschlich, sie hat auch volkswirtschaftliche Auswirkungen. Am deutlichsten sichtbar wird das im BIP, das nach Jahren guter Wachstumsraten zwischen 2,0 und 6,4 Prozent im Vorjahr auf ein mageres Plus von nur 0,7 Prozent zurückfiel. „Vor allem anfangs war die Situation schwierig, denn als Folge der Einberufung von gut 300.000 Reservisten fehlen diese als Arbeitskräfte“, betont Haas. Die Investoren, die sich anfangs zurückhielten, seien jedoch zurück – in der Hoffnung, dass der Krieg bald zu Ende gehen werde. So hat die Börse wieder angezogen und die Hightech-Investitionen sind im Gesamtjahr 2024 bereits wieder von 6,9 auf 9,6 Milliarden Dollar gestiegen.
Immerhin würden die Kosten für den Krieg auf bisher 40 Milliarden Dollar geschätzt – so viel, wie die in Planung befindliche U-Bahn für Tel Aviv kosten soll. Das belastet das Budget schwer, zumal niemand abschätzen kann, wie lange der Krieg noch dauern wird. Die Staatsverschuldung ist bis Ende des Vorjahres von 60 auf knapp unter 70 Prozent gestiegen, das Budgetdefizit lag bei 7,2 Prozent, die Exporte gingen zurück, jedoch auch die Importe. Als eine der Maßnahmen wurde die Mehrwertsteuer von 17 auf 18 Prozent erhöht.
Und dennoch: Einmal mehr zeige sich das Land in der politischen Ausnahmesituation als wirtschaftlich robust, betont Haas. Nicht zum ersten Mal in der fast 80-jährigen Geschichte befinde sich Israel in einer schwierigen Situation. Von einer Lähmung der Wirtschaft, wie pessimistische Stimmen tönen, könne keine Rede sein, auch wenn man von einer Normalisierung noch entfernt sei. Aber die Zeichen stünden bereits wieder auf Erholung. Dazu trage auch das Bevölkerungswachstum von 1,8 Prozent bei, was die Inlandsnachfrage ankurble. „Nach jedem Krieg sind mehr Menschen ins Land gekommen als gegangen sind“, sagt Haas. Einzelfälle gebe es, aber einen regelrechten Braindrain könne er nicht orten. Vor allem aber sei die Hightech-Industrie intakt, sie sei international gut vernetzt und viele Firmen an der US-Technologiebörse Nasdaq gelistet. Und die von US-Präsident Donald Trump vielen Ländern angedrohten Zölle träfen Israel vorerst kaum. Denn der Basiszoll auf israelische Warenexporte in die USA betrage nur zehn Prozent und nur 13 Prozent der Gesamtausfuhren gingen in die Vereinigten Staaten, während ein Drittel in die EU flössen. Der IWF geht für das laufende Jahr auch wieder von einem Wirtschaftswachstum von 2,7 Prozent aus, die OECD setzt sogar 3,5 Prozent an.
Folgt dem Krieg also wieder ein Wirtschaftswunder – so wie nach den früheren Konflikten? Die Hoffnung besteht, zumal es auch um den Wiederaufbau von Gaza geht.