„Ich bin modernorthodox. Ich neige sicherlich von meiner Natur her zum Maximum an Erleichterung.“
Von Martin Engelberg (Text) und Peter Rigaud (Fotos)
»NU: Du bist eigentlich der Rabbiner des Stadttempels und aller Juden, die nicht in einer anderen Gemeinde organisiert sind.
Eisenberg: Ja, auch von Leuten, die nur einmal im Jahr in den Tempel kommen. Da gibt es doch den Witz – du weißt, ich mag Witze gerne – wo Leute vorbeikommen und zusehen, wie eine Sukka gebaut wird, und fragen: „Wos is des eigentlich?“ Worauf die Arbeiter antworten: „Die Juden haben da ein Fest für sieben Tage und da müssen die in so einer Hütte sitzen.“ Darauf sagen die: „Na bumm, für sieben Tage brauchen die so a schöne Hütte?“. Darauf die Arbeiter: „Na dann schauens’ daneben, der große Tempel da, den habens’ überhaupt nur für drei Tage im Jahr gebaut.“ Ein bitterer Witz.
Nun, die meisten deiner Mitglieder definieren ihr Judentum nicht unbedingt über den Besuch der Synagoge.
Als ich aus der Jeschiwa kam, habe ich das Judentum zu 99 Prozent als Religion gesehen und 1 Prozent als alles andere. Inzwischen haben sich die Prozentsätze verschoben. Natürlich ist für einen Rabbiner Judentum noch immer in erster Linie eine Religion. Aber es gibt Leute, die sich von früh bis spät mit Judentum befassen und trotzdem nicht religiös sind. Weil Judentum auch die Idee eines Volkes, einer Schicksalsgemeinschaft, einer Kultur sein kann. Es kann ein Mann in der Früh aufstehen und zwei Stunden gegen Antisemitismus auftreten, dann – wie früher – für die Juden in der Sowjetunion demonstrieren, am Nachmittag hört er sich chassidische Platten an und am Abend geht er ins jüdische Theater. Das ist nicht äquivalent einem Juden, der alle Gesetze einhält, aber was ich sagen wollte, ist, dass sich ein Mensch mit Jüdischem beschäftigen kann, ohne in die Synagoge zu kommen. Ich bin heute so weit zu sagen, das muss auch akzeptiert werden, das ist wertvoll.
Wie definierst du dich im Spektrum des Judentums?
Ich bin modern-orthodox. Orthodox heißt, die Halacha halten, die Thora mit der talmudischen Auslegung halten, wie sie auch im Schulchan Aruch und im Weiteren festgelegt. Wie auch in allen Dingen gibt es da auch immer zwei Juden mit drei Meinungen, das heißt, es gibt Auslegungen ins Erschwerende oder Erleichternde. Ich neige sicherlich von meiner Natur her und aufgrund meiner Position in der Gemeinde zum Maximum an Erleichterung. Ein Oberrabbiner ist dann erfolgreich, wenn die Frommen sagen, er ist nicht fromm genug, und die Freien sagen, er ist zu fromm.
Was heißt das in der Praxis?
Die Gebete sind alle in Hebräisch, die Predigten in Deutsch. Muss sein, sonst brauch ich nicht predigen. Ich habe einiges für die Frauen getan: Ich habe erlaubt, dass Frauen Kaddisch sagen können, wie es in modernorthodoxen Gemeinden üblich ist. Ich habe die Bat-Mizwa verstärkt. Wobei ich keineswegs das machen kann und will, wie es die Reformgemeinden handhaben, dass Mädchen auch zur Thora aufgerufen werden können. Aber es sind folgende Ingredienzien möglich: Das Mädchen darf eine Rede in der Synagoge halten, es wird vom Rabbiner angesprochen, es wird gesegnet, es werden Zuckerln geworfen, es erhält einen Siddur – das alles in Anlehnung an unsere Zeremonie für die Burschen. Da bin ich an den Rand des Möglichen gegangen und es ist entsprechend den amerikanischen Vorbildern von modern-orthodoxen Gemeinden.
Was ist deine Mission, dein Ziel für deine Arbeit?
Ein Ziel ist sicherlich etwas, was früher wie eine „Mission Impossible“ ausgesehen hat: Es gibt zum Beispiel jetzt jeden Schabbat im Stadttempel einen Kinderchor von 10 bis 15 Kindern, die ein paar Gebete singen. So kommen Kinder in den Tempel, deren Eltern kommen, die Kinder fühlen sich wohl. Das bringt ein bisschen Leben in den Stadttempel. Das ist mir auch deswegen so besonders wichtig, weil viele Leute – zum Beispiel jene, die nur zur Jiskor-Andacht in den Stadttempel kommen, ein falsches Bild vom Judentum erhalten. Dass das Judentum eine traurige Religion ist, wo wir dauernd klagen und weinen. Das wird auch noch dadurch verstärkt, dass die Shoah noch so nahe ist. Meine Mission ist zu sagen, das Judentum ist gar keine traurige Religion. Das Judentum ist eigentlich eine fröhliche Religion, wir trauern, wenn die Zeit zur Trauer ist, aber wir feiern, wenn es Grund zum Feiern gibt. Da haben uns die Chassidim vielleicht etwas voraus. In diesem Sinne fühle ich mich durchaus chassidisch.
Wo ordnest du dich da ein?
Ich fühle mich seelisch schon sehr mit dem Chassidismus verbunden, mit Shlomo Carlebach („The Singing Rabbi“), der auch nicht superfromm war. Musik ist mir überhaupt außerordentlich wichtig. Mir ist wichtig, eine Lebendigkeit im Judentum zu haben.
Wie viele Mitglieder hat der Stadttempel?
In einem ganz orthodoxen Bethaus ist die Zahl der Betenden am Wochentag und am Schabbat fast gleich. Bei uns sind es wochentags 10–20, am Schabbat 80–150 und zu Rosch Haschana und Jom Kippur, vor allem zu Jiskor, kommen bis zu 1.000 Leute. Und eigentlich bist du alleine für all diese Menschen zuständig. Man kann ruhig sagen, dass es unbedingt notwendig wäre, einen jüngeren Rabbiner als Unterstützung zu haben, wie es auch andere Gruppen schon haben. Das ist auch schon in der Kultusgemeinde durchgedrungen und da ist auch schon etwas geplant.
Im Herbst sind Wahlen in der Kultusgemeinde. Was wären drei Wünsche an die zukünftige Führung?
Ganz zentral wäre eine jüdische Erziehung für alle, nicht nur für jene, die in jüdische Schulen gehen. Da könnte viel verbessert werden, das ist für mich ganz zentral.
Dein Vater war Oberrabbiner, jetzt bist es du. Welcher deiner Söhne ist der präsumtive Nachfolger?
Wenn, dann der Jüngere, weil der Ältere ist zu fromm (lacht).
Was sind deine Lebenspläne?
Ich könnte mir vorstellen, meinen Lebensabend in Jerushalaim zu verbringen. Aber ich bin noch am Vormittag.