Antisemitismus ist ein uraltes Phänomen, doch in der Gegenwart hat es einen neuen Ausdruck gefunden: digital vernetzt, akademisch legitimiert und geopolitisch instrumentalisiert.
von Mark Napadenski
Welche Strategien gibt es gegen den massiv steigenden Antisemitismus? Mark Napadenski hat mit der israelischen Sondergesandten für die Bekämpfung von Antisemitismus; Michal Cotler-Wunsh über die Möglichkeit globaler Konzepte gegen Antisemitismus, digitale Verantwortung und Israels Rolle in einer zunehmend polarisierenden Welt gesprochen.
Michal Cotler-Wunsh sieht im modernen Judenhass nicht nur ein Problem für jüdische Gemeinschaften, sondern ein Symptom demokratischer Erosion. Die frühere Knesset-Abgeordnete fordert eine neue globale Ernsthaftigkeit im Umgang mit dem Phänomen und schreckt dabei auch vor Kritik an westlichen Demokratien und Institutionen nicht zurück.
Internationale Organisationen wie der UN-Menschenrechtsrat sind laut Cotler-Wunsh keine neutralen Instanzen, sondern Schauplätze systematischer Voreingenommenheit: „Wenn Israel zum einzigen Land wird, das als ständiger Tagesordnungspunkt behandelt wird, während systematische Menschenrechtsverletzungen in anderen Staaten kaum erwähnt werden, dann ist das ein strukturelles Problem“. Der erste Schritt müsse daher eine begriffliche Klärung sein: „Deshalb fordere ich, dass Staaten und Institutionen die IHRA – (International Holocaust Remembrance Alliance) Arbeitsdefinition von Antisemitismus übernehmen. Als Werkzeug gegen Diskriminierung im Allgemeinen und nicht als Waffe. Die Arbeitsdefinition ist nämlich auch in anderen Fällen von Diskriminierung anwendbar.“
45 Länder erkennen diese Definition von Antisemitismus an, darunter auch Österreich. Der Befürchtung von Aktivisten, dass durch diese Definition eine Einschränkung der Meinungsfreiheit Platz greife, begegnet Cotler-Wunsh mit klaren Worten: „Erstens: Die IHRA-Definition ist ‚leider‘ nicht rechtlich bindend. Zweitens: Sie soll keine Kritik verhindern, sondern dabei helfen, antisemitische Muster zu erkennen – und zwar auch dort, wo sie sich als politische Positionen tarnen. Das fällt einigen offensichtlich schwer. Wer Israel dämonisiert, delegitimiert oder mit doppelten Standards misst, bewegt sich außerhalb des legitimen Diskurses. Antisemitismus darf nicht als ‚Meinung‘ normalisiert werden.“
Gerade an Universitäten wird dieser Diskurs aber nun zur Belastungsprobe. Die Zunahme antizionistischer Bewegungen an nordamerikanischen Hochschulen bereitet Cotler-Wunsh große Sorge. Sie sieht darin weniger politische Kritik als eine neue, akademisch codierte Form von Antisemitismus. „Es ist ein Irrtum zu glauben, Antizionismus sei bloß eine politische Haltung. Wer dem jüdischen Volk das Recht auf Selbstbestimmung abspricht, und nur dem, betreibt eine Form von Antisemitismus.“ Dass legitime Kritik an Staaten schützenswert ist, möchte sie damit selbstverständlich nicht in Frage stellen, betont sie vehement. „Was an den Universitäten stattfindet ist nicht mehr nur Debatte, sondern Gewalt!“ Doch wie kann man in dieser vermeintlich festgefahrenen Situation jüdisches Leben schützen, ohne zu stark in den Diskurs an Hochschulen einzugreifen? Sollten Universitäten, im Kontrast zur politischen Debatte, nicht ein Ort bleiben in denen auch radikale Positionen inhaltlich verhandelt werden dürfen? „Die IHRA-Definition will keinen Diskurs verhindern, sondern Mechanismen sichtbar machen. Allgemein braucht es mehr Bildung in diesem Bereich. Die Forderung nach Aufklärung steht in keinem Fall im Gegensatz zu einem offenen Diskurs. Im Gegenteil, sie bereichert den Diskurs und wird von jenen, die am lautesten Zensur schreien verunmöglicht“, antwortet sie. „Nur wer die historischen und gegenwärtigen Erscheinungsformen von Antisemitismus versteht, kann auch seine subtileren Varianten erkennen. Die Antwort ist daher nicht Zensur, sondern Aufklärung. Es braucht klare Richtlinien, die zwischen Meinung und Hetze unterscheiden.“
Eine der radikalsten Transformationen der Gegenwart hat der Antisemitismus im digitalen Raum erfahren. Mit der Interparlamentarischen Taskforce gegen Online-Antisemitismus hat Cotler-Wunsh nun einen transnationalen Ansatz etabliert, der über bloße Content-Moderation hinausgeht. „Es reicht nicht, problematische Inhalte zu löschen. Die Strukturen selbst sind intransparent: Algorithmen fördern Polarisierung und Radikalisierung. Plattformen müssen endlich offenlegen, wie sie Inhalte bewerten, verbreiten und monetarisieren. Es braucht Transparenz nicht nur wegen des Antisemitismus, sondern auch wegen der Diskriminierung anderer Gruppen und der zunehmenden Hasskriminalität im Netz. Als User dieser Plattformen haben wir ein Recht auf Transparenz, immerhin werden unsere Daten teuer verkauft. Es ist wichtig hervorzuheben, dass unser Verhalten das Produkt ist, mit dem die Tech Firmen ihre Profite erzielen. Allein das Wort „Feed“ – wir werden mit Inhalten gefüttert.“ Für Cotler-Wunsh ist es wichtig zu betonen, dass Regulierung aber nicht zur Zensur werden darf. „Wir brauchen rechtsstaatlich verankerte, transparente Prozesse, keine geheimen Blacklists. Es geht um demokratische Kontrolle über öffentliche Räume, nicht um staatliche Kontrolle über Gedanken.“
Natürlich führt all das zur Frage: Kann auch Israel in der momentanen Lage der Nation, mit der inneren Zerrissenheit der israelischen Demokratie, selbst glaubhaft gegen Diskriminierung und Antisemitismus auftreten, wenn doch die eigene Regierung international für Rassismus, Demokratieabbau und rechtsstaatliche Erosion kritisiert wird und Institutionen wie den ICC scharf kritisiert und sogar delegitimiert? „Ich weiß, dass diese Fragen immer wieder aufkommen. Aber Israels Demokratie lebt gerade von der Intensität ihrer Debatte, in der Knesset, auf der Straße, in den Gerichten. Ich sehe darin keinen Widerspruch, sondern einen Beweis für die Stärke unserer Institutionen.“ Dennoch gesteht sie: „Der Ton in der Politik muss sich ändern, wenn wir international glaubwürdig bleiben wollen.“
Ob Antisemitismus künftig zum Maßstab internationaler Partnerschaften Israels werden sollte? Für Cotler-Wunsh ist die Antwort eindeutig: „Wer Israel als Partner sieht, muss auch bereit sein, Antisemitismus in der eigenen Gesellschaft zu thematisieren. Das ist nicht moralischer Luxus, sondern sicherheitspolitische Notwendigkeit. Antisemitismus verschwindet leider nicht durch politische Unterschriften.“
