Die Historikerin Brigitte Ungar-Klein sucht nach Österreichern, die während der Nazi-Zeit Juden halfen, als U-Boote zu überleben. NU-Autor Michael Kerbler hat mit ihr über ihr Projekt gesprochen.
Von Michael Kerbler
Michael Kerbler: Frau Ungar-Klein, in Berlin haben Jüdinnen und Juden die Naziherrschaft überlebt, weil sie versteckt worden sind. Versteckt wurden Sie von Berlinerinnen und Berlinern, die man heute als „stille Helden“ bezeichnet. Hat es solche „stille Helden“ auch in Wien gegeben?
Ungar-Klein: Ja, „stille Helden“ hat es auch in Wien gegeben. In meinen Recherchen ist es mir gelungen etwa 1.600 untergetauchte Menschen jüdischer Abstammung namentlich zu erfassen. Es haben aber nicht alle überlebt, denn viele wurden während dieser Zeit durch Verrat oder bei Straßenrazzien festgenommen. Als sogenannte „U-Boote“ haben etwa 1000 Jüdinnen und Juden überlebt. „U-Boote“ waren Menschen, die über einen längeren Zeitraum – sei es mit illegalen Papieren, sei es ohne jegliche Papiere – versteckt gelebt haben. Und zwar mit Hilfe anderer.
Welche Motive veranlassten Wienerinnen und Wiener, jüdische Mitbürger zu verstecken?
Hauptsächlich waren humanitäre Gründe ausschlaggebend, die die Menschen handeln ließen. Zum Teil waren es auch politische Gründe. Denn man musste ein politisch bewusster, kritisch denkender Mensch sein, um überhaupt zur Überzeugung zu gelangen, jemandem helfen zu wollen. Wiener, der hinter dem NS-Regime gestanden sind, werden wohl kaum auf die Idee gekommen sein, jüdischen Mitmenschen zu helfen. Obwohl ich sagen muss, es hat Fälle gegeben, dass in einem Wohnhaus Personen versteckt wurden, die Mieter dies gewusst haben, aber die Befürworter des Nationalsozialismus unter ihnen dennoch niemanden verraten haben.
Kann man sagen, dass mit der massiven Verfolgung der Juden in Wien nach der Reichspogromnacht mehr und mehr jüdische Mitbürger untergetaucht sind?
Man muss mehrere Phasen der Verfolgung unterscheiden. Es hat unmittelbar nach dem Anschluss wilde Verfolgungsjagden auf Juden gegeben, Familien sind aus ihren Wohnungen vertrieben worden – etwa auch aus den Wiener Gemeindewohnungen. Es gab eine richtige Vernaderungswelle. Die zweite Phase setzte mit der Reichspogromnacht im November 1938 ein. Von da an begannen Juden sich zu verbergen. Es haben sich auch einige deshalb versteckt, um einen günstigen Ausreisezeitpunkt abzuwarten. Sie wollten dem KZ entgehen – damals wurden Jüdinnen und Juden aus Wien nach Dachau deportiert. Die dritte Phase begann im Herbst 1941.
Im Fall von Inge Deutschkron (siehe NU Nr. 28/ 2-2007) haben 20 Familien geholfen, sie und ihre Mutter von Anfang 1943 bis Kriegsende zu verstecken und zu versorgen. Wie viele Helferinnen und Helfer hat es bei uns gegeben?
Es hat mehrerer Helfer pro Person bedurft, um jemanden zu verstecken und ausreichend zu versorgen. So hat es schon mehrere Verstecke gebraucht, um die Zeit zu überstehen. Es waren übrigens nicht nur Wienerinnen und Wiener, die geholfen haben. Es gab Helfer aus den Bundesländern und solche, die aus dem Ausland stammten. Ich habe in meiner Datei an die 3.400 Personen aufgelistet, die „U-Booten“ geholfen haben. Es hat drei bis vier Helfer bedurft, damit ein Untergetauchter überleben konnte. Zum Teil waren es auch mehr als vier, eine exakte Zahl lässt sich heute aufgrund der Quellenlage schwer eruieren.
Ich habe bei „U-Booten“ ursprünglich ausschließlich an Erwachsene gedacht. Aber ich habe festgestellt, dass in Wien auch zahlreiche Kinder versteckt lebten. Welche Probleme haben sich für diese „UBoote“ ergeben?
Sie brauchen nur an den natürlichen Bewegungsdrang eines Kindes zu denken. Oder an das Mitteilungsbedürfnis von Kindern. Also die Kinder ruhig zu halten und ruhig zu beschäftigen, das war wohl wirklich schwierig. Elfriede Gerstl etwa hat mir erzählt, dass sie als Zwölfjährige in einem abgedunkelten Raum gelebt hat und dort halb gelegen, halb gesessen ist. Es hat sogar Babys gegeben, die unter schwierigsten Bedingungen geboren und in Verstecken aufgezogen wurden.
Wie schwierig war es für ehemalige „UBoote“ wieder in die Normalität des Alltags zurückzufinden? Ich erinnere mich an das Schicksal eines Mannes, der monatelang nur auf Zehenspitzen ging und dann kaum mehr normal gehen konnte.
Ja, das war der Herr Friedländer, der im 9. Bezirk in der Lazarettgasse gelebt hat. Seinen Fall hat schon Erika Weinzierl in ihrem Buch „Zu wenig Gerechte“ erwähnt. Ich habe von einer Opernsängerin gehört, die durch das leise Sprechen während der Zeit des Verstecktseins ihre Stimme verloren hat. Elfriede Gerstl hat mir erzählt, dass sie, nachdem sie damals immer nur Schuhe bekommen konnte, die zu klein waren, Probleme mit ihren Füßen hatte. Und da sie es nicht gewohnt war, anderen Menschen zu begegnen, hatte sie Scheu, ein Geschäft zu betreten. Für Kinder, die Phasen ihrer Pubertät im Versteck durchlebt haben, war das Einleben in den Alltag sicher weitaus schwieriger als für Menschen, die als Erwachsene zum „UBoot“ wurden. Dennoch: Es gab Fälle, wo Untergetauchte bald nach 1945 Selbstmord begangen haben. Und es sind Traumata geblieben, die man nach Kriegsende nicht sofort behandeln konnte und die man erst zwanzig Jahre später aufzuarbeiten begann. Als ich in den 80er Jahren mit ehemaligen „U-Booten“ zu sprechen begann, war das oft das erste Mal, dass diese Menschen über ihre Situation gesprochen haben. Sie haben von 1945 bis Mitte der 80er diese schwierige Lebensphase verdrängt und vergessen. Narben auf der verletzten Seele aber sind geblieben, das war ganz offensichtlich.
Kann die Gedenkstätte für „Stille Helden“ in Berlin eine Vorbildfunktion für Wien haben?
Es gibt in Wien seit geraumer Zeit einige Plätze, an denen an die sogenannten „stillen Helden“ erinnert wird. So in der Leopoldstadt „Im Werd“- Ecke Leopoldsgasse. Dort befindet sich eine Stele, ein Zeichen für die „stillen Helden“. Ich möchte außerdem an die Gedenktafel am Misrachi-Haus am Wiener Judenplatz erinnern, die am Holocaustgedenktag im Jahr 2001 enthüllt wurde. Dort steht zu lesen: „Dank und Anerkennung den Gerechten unter den Völkern, welche in den Jahren der Schoah unter Einsatz ihres Lebens Juden geholfen haben, den Nachstellungen der Nazischergen zu entgehen und so zu überleben.“ Und es werden auch nach wie vor durch den Staat Israel „Gerechte“ ausgezeichnet. Auch posthum. Es wird natürlich immer schwieriger, Zeugenaussagen zu bekommen. Zeitzeugen sind leider nur mehr sehr wenige unter uns.
Zur Person: Brigitte Ungar-Klein studierte an der Universität Wien Deutsch und Geschichte. Leiterin des Jüdischen Instituts für Erwachsenenbildung. Beschäftigt sich mit dem Thema „U-Boote“ seit ihrer Zeit als Mitarbeiterin im DÖW, dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstand. Erika Weinzierl hat die Historikerin für die Thematik interessiert.