In den vergangenen Jahren hat sich der niederländisch-jüdische Schriftsteller Leon de Winter immer wieder an den hochbrisanten Debatten zum Nahostkonflikt beteiligt. In seinen Romanen wie auch in zahlreichen politisch pointierten Essays. So auch in seinem neuen Roman „Stadt der Hunde“. Gabi Flossmann hat ihn gelesen und mit Leon de Winter gesprochen.
Von Gabriele Flossmann
Schon vor 20 Jahren hatte Leon de Winter in seinem Roman Das Recht auf Rückkehr die Entwicklung der Welt im Jahr 2024 literarisch beschrieben. Darin wird Russland als ein aggressives Imperium beschrieben, das die Demokratien destabilisiert. Israel befindet sich im Würgegriff palästinensischer Terroristen und hat sich in eine abgeschottete Festung verwandelt. Eine, wie sich heute zeigt, ziemlich realistische Utopie, um nicht zu sagen: Dystopie. Seit den Ereignissen vom 7. Oktober 2023 ist der Schriftsteller schockiert vom immer offener zur Schau getragenen Judenhass und Antisemitismus, nicht selten getarnt als Sympathiekundgebung für Palästina. In seinem neuen Roman werden diese Themen zu einem literarischen Drahtseilakt zwischen Politthriller, Familiendrama sowie Philosophie, Psychologie und Metaphysik und – zu einer im wahrsten Sinne des Wortes „fabelhaften“ Metapher für die heutige Welt. Leon de Winter legt in seinem Roman die Zukunft des Nahen Ostens auf die Schultern einer jungen Frau: Lea Hollander, die mit ihrem Freund spurlos in der Negev-Wüste verschwunden ist. Seitdem reist ihr Vater, der inzwischen im Ruhestand lebende Neurochirurg Jaap Hollander, Jahr für Jahr dorthin in der Hoffnung, Hinweise auf ihren Verbleib zu finden. Seine Suche ist mittlerweile zu einer Obsession geworden. Je aussichtsloser die Chance ist, seine Tochter noch lebend zu finden, desto intensiver wird seine emotionale Bindung zu ihr. Am Beginn des Romans befindet sich Hollander gerade wieder auf einem seiner emotionalen Trips. Bis plötzlich der israelische Ministerpräsident mit einer außergewöhnlichen Bitte an ihn herantritt: Er soll die 17-jährige Tochter des Herrschers von Saudi-Arabien operieren, die an einem lebensbedrohlichen Gehirntumor leidet. Sie ist der Augapfel des arabischen Königs und soll der Region dauerhaft Frieden bringen, indem sie als Frau seine Nachfolge antritt. Sie soll die weibliche Emanzipation voranbringen und das Land modernisieren. Aber ein schwer zugängliches Geflecht aus Blutgefäßen in ihrem Kopf bedroht ihr Leben. Die Geschichte, dass der arabische Herrscher – ein skrupelloser Politiker, der auch vor Mord nicht zurückschreckt – ausgerechnet in seiner Tochter die Friedensbringerin für die Region sieht, muss man als Leser erst einmal verarbeiten. Doch die Geschichte wird immer spannender. Zunächst einmal muss die gefährliche Gehirnoperation gelingen, die sich bisher kein Arzt zugetraut hat. Jaap Hollander, der als der beste Neurochirurg der Welt gilt, könnte die junge arabische Prinzessin retten. Mit dem versprochenen Honorar von einer Milliarde Dollar will er eine teure Suchaktion nach seiner Tochter finanzieren. Zwar sind die Erfolgsaussichten minimal, doch die Operation muss unter allen Umständen gelingen. Die politische Lage lässt keine andere Option zu, geht es doch nicht nur um Leben oder Tod der jungen Patientin, sondern auch um Frieden oder Krieg zwischen Israel und Saudi-Arabien.
Diese Ausgangssituation ist bei Leon de Winter unverkennbar auch eine Metapher für die derzeitige Lage im Nahen Osten. Zwischen einem israelischen Ministerpräsidenten (Anspielungen unverkennbar) und einem saudischen Herrscher (Anspielungen unverkennbar) spielt sich das Drama der jungen Frau ab, die zwischen Leben und Tod steht, zwischen Demokratie und Diktatur. Einmal mehr verhandelt de Winter in seinem vielschichtigen Roman Fragen nach Identität, religiöser Zugehörigkeit und der politischen Instrumentalisierung von Einzelschicksalen. Jaap Hollander sucht – so erfährt man – nicht nur nach der Tochter, sondern auch nach einer Gelegenheit, seine väterliche Schuld abzuarbeiten. Denn er hatte seinen beruflichen Ehrgeiz jahrelang vor das Wohl seines Kindes gestellt und es viele Jahre hindurch vernachlässigt. Auf der Suche nach seiner Tochter lässt er sein ganzes verkorkstes Privatleben Revue passieren: ein narzisstischer Mann, Jude, jedoch nicht religiös, egoistisch, gefangen in einer komplizierten und alles andere als harmonischen Familienbeziehung, der verfahrene Nahost-Konflikt und die Hoffnung auf Frieden.
NU: In Ihrem Roman Das Recht auf Rückkehr haben Sie vor 20 Jahren die Entwicklung der Welt im Jahr 2024 literarisch beschrieben. Nicht weniger treffend als George Orwell in seinem 1949 erschienenen dystopischen Roman „1984“. In Ihrem Weltbild ist Russland ein aggressives Imperium, das Demokratien destabilisiert, Israel befindet sich im Würgegriff palästinensischer Terroristen und hat sich zu einer isolierten Festung entwickelt. Wie haben Sie das vorausgesehen?
Leon de Winter: Ich habe nichts vorausgesehen. Es gibt einige Probleme, die immer bestehen bleiben: die Spaltung der Juden untereinander, den Hass der Araber auf die Juden, die Frustration der Russen über die fehlende Verbindung zur europäischen Kultur, die sie so sehr bewundern. Ich habe diese Elemente nur in die Zukunft getragen. Das Wichtigste jedoch war die innerjüdische Spaltung. Sie ist in Israel jetzt auf erschreckendem Niveau im Gange.
Haben Sie auch eine Vision davon, wie sich die Konflikte im Nahen Osten entwickeln werden?
Ich bin heute viel hoffnungsvoller als vor zwanzig Jahren. Die wichtigsten arabischen Nationen erkennen, dass Israel ein mächtiger Verbündeter gegen die Schiiten sein könnte, die sie mehr fürchten als die Juden. Das grundlegende Hindernis sind die Palästinenser, die die Araber zwar nicht mögen, aber als Symbol ihrer vorgeblichen Einheit bewahren müssen.
Sie haben viel in den USA gelebt und geschrieben. Wie sehen Sie die Vereinigten Staaten unter der Regierung Trump II? Hätten Sie jemals gedacht, dass er wiedergewählt werden könnte?
´Ja, ich hatte geglaubt, er wäre wiederwählbar. Er wird stark unterschätzt. Sein Wahlkampf war brillant. Er hat jedes demokratische Thema geklaut und damit seine Wahlwerbung durchgezogen. Er hat die Demokraten nach links gedrängt. 2012 reiste ich durch die Mitte der USA, von Süden nach Norden. Ich sah die Verwüstungen, die die Globalisierung in Dörfern und Kleinstädten angerichtet hat, zerstörte Industriegebiete, verbarrikadierte Hauptstraßen. Die amerikanische Mittelschicht war bereit für jemanden wie Trump. Es ist immer noch lächerlich, dass die Demokraten nicht darauf reagieren konnten.
Es gibt auch ernsthafte Stimmen, die glauben, dass Trump eher eine friedliche Lösung für Israel und die Ukraine finden wird als beispielsweise ein demokratischer Präsident?
Trump scheint derzeit der Einzige zu sein, der Putin zu einem Deal zwingen kann. Sicher, die Ukraine wird ihre Ostprovinzen verlieren, aber es ist noch unklar, was Trump von Putin verlangen wird. Aber er wird eine Gegenleistung verlangen.
Im Nahostkonflikt ist der Antisemitismus wieder aufgeflammt – oft getarnt als Sympathie für die Palästinenser. Glauben Sie, dass dieser Antisemitismus nachlassen wird, sobald der Konflikt gelöst ist?
Ich fürchte, das wird so bleiben. Gaza hat den Hassern die Möglichkeit gegeben, offen zu sein. Das ist nichts Neues, es ist der gute alte Judenhass. Die neuen Online-Plattformen sind perfekte Vehikel, um Hass auszudrücken.
Und bitte verzeihen Sie mir meine Verspätung, aber ich möchte trotzdem über Ihr großartiges Buch Stadt der Hunde sprechen: Darin ruht die Lösung für den Frieden mit Saudi-Arabien auf den Schultern einer Frau, die schwer krank ist und nur durch eine riskante Operation gerettet werden kann. Wie lässt sich diese Metapher interpretieren?
Die Metapher legt nahe, dass arabische Frauen die Hoffnung der arabischen Nationen sind. Sie müssen sich von den überholten Werten der Beduinen befreien, die noch immer weite Teile der arabischen Welt prägen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass Mohammed bin Salman, der Herrscher Saudi-Arabiens, diese Reform vorantreiben kann.
Leon de Winter
Stadt der Hunde
Diogenes Verlag, 2025
272 S., EUR 26,-