„Die Aufgabe eines Juden auf dieser Welt ist es, Thora zu lernen. So wie er kann. Das Ziel ist nicht zu arbeiten. Außer er muss.“
Von Martin Engelberg (Text) und Peter Rigaud (Fotos)
NU: Was ist der Schwerpunkt Ihrer Arbeit als Rabbiner?
Pardess: Schiurim (Unterricht) zu geben ist die Hauptsache. Mein Vater sagte, dass wenn man eine Drusche (Predigt) hält, haben die Menschen schon vergessen, was man gesagt hat, bis man wieder runtergegangen ist. Aber wenn man mit einem Menschen während der Woche bei einem Schiur zusammen ist und er kommt dann am Schabbat zum Gebet und er hört eine Drusche, dann hast du die Drusche gegeben.
Es gibt eigentlich – sehr vereinfacht gesagt – zwei unterschiedliche Zugänge: Der eine ist das Lernen, das Litvische, der andere ist eher das Chassidische, wo das gemeinsame Verbringen, Erleben im Vordergrund steht.
Ich bin eine Mischung. Auf dem Grabstein meines Vaters steht, dass wir unsere Wurzeln von beiden Seiten haben. Mein Vater und auch ich haben auch Kontakt zu chassidischen Rebbes: zum Gerer Rebbe, zum Belzer Rebbe. So führe ich auch die Gemeinde hier: lernen, ohne Ermäßigung, aber auch zusammenkommen, singen zusammen, persönlicher Kontakt, mit Liebe und Wärme für meine Ba’ale Batim (Mitglieder) und Schüler.
Wie ist es mit Dingen, die in der Gemeinde geschehen, wo Sie das Gefühl haben, die sind nicht in Ordnung. Intervenieren Sie?
Jeder Rabbiner hat seine Gemeinde zu betreuen. Meine Gemeinde ist nur die Misrachi. Die Trennung ist eindeutig. Wenn also etwas passiert, was mit mir nichts zu tun hat, ist es nicht meine Aufgabe. Wenn es mit meinen Ba’ale Batim zu tun hat oder mit jemand, der bei mir gelernt hat, in der B’nai Akiba (Jugendorganisation der Misrachi) war – dort habe ich eine moralische Verpflichtung und einen Kontakt, um das anzusprechen. Laut der Halacha ist es ein großes Thema, wie man so etwas anspricht. Einerseits sagt die Thora, dass man den anderen zurechtweisen muss. Andererseits sagt die Thora, dass, wenn man weiß, dass es nicht helfen wird, man lieber gar nichts sagen soll. Aber wenn wir uns daran halten, nichts zu sagen, dann können wir unsere Aufgabe als Rabbiner vielleicht nicht erfüllen. Jedenfalls ist diese Situation nicht einfach und muss von Fall zu Fall für sich entschieden werden.
Wie stehen Sie zum Leitsatz Tora WeAvoda (Thora lernen und arbeiten)?
Dazu gibt es eine ganze CD von mir, zum Thema, ob Jeschiwa-Schüler Parasiten sind. Nun: Die Aufgabe eines Juden auf dieser Welt ist es, Thora zu lernen. So wie er kann. Nicht alle können 12–14 Stunden pro Tag lernen. Das Prinzip ist, dass man lernen soll. Kommt eine Situation, wo jemand ein Einkommen braucht, um seine Familie zu erhalten, muss er arbeiten gehen. Aber das Ziel ist nicht, zu arbeiten, das Ziel ist es, Thora zu lernen und die Mitzwoth (Gesetze) zu halten.
Bei all dem bleibt eigentlich sehr wenig Platz für Vergnügen, Unterhaltung. Für mich persönlich besteht mein Vergnügen darin, mit meiner Familie zu sein und das zu genießen, Thora zu lernen und Schiurim zu geben. Ich finde meine Vergnügen nicht auf der Straße oder sonst wo, wo die Menschen hingehen.
Sie sind in Israel geboren – wie ist Ihre Haltung zum modernen Staat Israel?
Im Staat Israel gibt es von der Staatsgründung an einen Status quo, was die Religion betrifft. Am Schabbat wird nicht gearbeitet, das Familienrecht, Hochzeiten, Scheidungen gehen laut der Halacha. Problematisch ist die Entwicklung in den letzten Jahren, wo die Kämpfe zwischen der Religion und dem Staat immer stärker wurden. Die Frage ist, ob überhaupt dieses Minimum des Status Quo erhalten bleibt. Wenn auch dieses Minimum zerbricht und zum Beispiel eine Hochzeit ohne Rabbinat möglich wird, dann verlieren wir alles. Wir müssen wissen, dass es da dann kein Zurück mehr gibt, dann würden wir uns nicht nur gesellschaftlich spalten, sondern echt zu zwei Völkern werden.
Wie ist Ihre Haltung zum Glauben nach der Shoah?
Ich habe dieser Frage zwei CDs von Tachles- Seminaren gewidmet. Es gibt hier verschiedene Faktoren: Erstens, ich beurteile niemanden. Die Mischna in den Sprüchen der Väter sagt, du sollst niemanden richten, bis du an seiner Stelle stehst. Und wenn du es besser kannst, kannst du den anderen richten. Ich habe mit vielen Menschen gesprochen, welche die Shoah erlebt haben, die zu mir kamen, um zu fragen, wie das möglich war. Früher habe ich dann oft versucht, mit Zitaten aus der Thora und Erklärungen zu argumentieren, aber dann habe ich festgestellt, dass es da gar nicht um Fragen und Antworten geht, sondern einfach darum, den Schmerz herauszuschreien. Es tut weh und man muss schreien, da hilft keine Antwort. Am Ende der Tachles-CD habe ich dann etwas gesagt, und ich glaube, dass das sehr wichtig ist. Menschen haben in der Shoah ihren Glauben verloren, aber wir dürfen nicht vergessen, dass noch viel mehr Menschen ihren Glauben behalten haben und nach der Shoah sogar noch religiöser geworden sind. Schließlich sind alle Orthodoxen, die nach Israel, Belgien, New York kamen, Überlebende der Shoah und deren Nachkommen. Woher kommen die Leute? Aus Polen, Ungarn, wo sie die Shoa überlebt haben. Vorher gab es überhaupt keine Orthodoxie in den U.S.A. Das heißt, die Shoah ist nicht eindeutig ein Widerspruch zum Glauben.
Was ist das beste Rezept gegen Assimilation?
Das beste Rezept ist eine jüdische Erziehung. Die Prioritäten der Menschen sind aber verschieden. Die Menschen schicken ihre Kinder in normale Schulen, weil sie dort alles Mögliche lernen, weil sie meinen, dass das fürs berufliche Leben wichtig ist, und vernachlässigen die jüdische Erziehung. Also müssen wir eigentlich zuerst die Eltern erziehen, nicht die Kinder. Wenn dann die Kinder den falschen Weg gehen, kommen die Eltern oft zu mir und bitten mich mit dem Kind zu sprechen, aber dann ist es bereits zu spät.
Was ist Ihr Resümee von sechzehn Jahren in Wien?
Das müssen die anderen sagen. Ich versuche, weiter diesen Weg zu gehen, die Menschen zum Bethaus zu bringen, Thora zu lernen, das ist unsere Stärke und unser Rezept, um das Judentum zu erhalten.