Walter Laqueur unternimmt den Versuch, ein Standardwerk zum Antisemitismus vorzulegen. Auf 200 Seiten geht das nicht ohne Fehler und Generalisierungen. Trotzdem ist das Buch lesenswert.
Von Mary Kreutzer
Walter Laqueur will mit seinem jüngsten Buch keine neue Theorie des Antisemitismus präsentieren oder offene Fragen beantworten. Keine neuen Forschungsergebnisse, kein originärer Gedanke und keine Polemik findet sich auf den knappen zweihundert Seiten. Sein Ziel sei einzig und alleine eine Zusammenfassung der wissenschaftlichen Beiträge und Debatten zum Thema, schreibt La-queur im Vorwort von „The Changing Face of Anti-Semitism“.
Einzig und allein? Ein gigantisches Unterfangen, wenn man bedenkt, dass zum Beispiel allein die Felix Posen Bibliografie 40.000 Einträge zur Antisemitismus-Forschung aufweist. Bis jetzt liegt sein Buch nur auf Englisch vor, und es liest sich wie ein journalistischer Artikel, der als Ein-stieg in die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, als Überblick, sehr zu empfehlen ist.
Die unterschiedlichen Interpreta-tionen und Erklärungsansätze des Phänomens Antisemitismus – der Begriff selbst ist erst etwas über ein Jahrhundert alt – werden in einem der ersten Kapitel abgehandelt. Von Leon Pinsker über Bernard Lazare zu Herzl und Marx, einen „Sprung“ zurück zu Spinoza – im Galopp wird ihr Denken und Schreiben gestreift.
Mit der Machtübernahme der Nazis erhielt die Antisemitismus-Forschung neuen Impetus und es erschien eine ganze Reihe von Publikationen. Adornos Theorie des „Autoritären Charakters“ schien Laqueur jedoch so wenig zu überzeugen wie auch Hannah Arendts Versuch, den Antisemitismus über die fehlende Wehrhaftigkeit der Juden in der Geschichte zu erklären. Sie seien, vor allem erstere, am mangelnden Wissen über jüdische Geschichte und Soziologie gescheitert. Auch Freuds Thesen zum Zusammenhang von Antisemitismus und Monotheismus dienten der Wissenschaft nicht wirklich als brauchbares Instrument, meint Laqueur.
Er stellt eine ganze Reihe von Erklärungsansätzen vor, die allesamt nicht ausreichend sind. „All das bedeutet nicht, dass der Antisemitismus ein unergründbares Phänomen ist (…) Doch es bedeutet, dass es keine monokausale Erklärung dafür gibt, dass zu verschiedenen Zeiten und Ort verschiedene Faktoren im Spiel waren“, schreibt er auf Seite 37. Diese Zeiten und Orte, Faktoren und Interpretationen fassen die weiteren Abschnitte des Buches zusammen: Altertum und Mittelalter, Aufklärung, Rassismus und Verschwörung, Shoah und der Neue Antisemitismus, die Linke und die muslimische Welt und so fort.
Im Detail jedoch haben sich Fehler in die Generalisierungen eingeschlichen. Zum Beispiel dort, wo problematische Begriffe eingeführt werden, ohne sie zu definieren. Was soll etwa die „neue muslimische Ideologie“ sein? Ist damit der politische Islam gemeint? Weiters beschreibt Laqueur, dass während des Russischen Bürgerkriegs antijüdische Pogrome von „quasi anarchists“ verübt wurden. Da er auf Literaturverweise völlig verzichtet, ist schwer nachzu vollziehen, wen er da-mit meint. Die anarchistische Machno-Bewegung? Dann ist er – wie viele – der bolschewistischen Propaganda jener Zeit aufgesessen, denn Nestor Machno war weder Antisemit, noch hat er seine Leute zu Pogromen angestiftet. Im Gegenteil, er half jüdischen Gemeinden beim Aufbau von Selbstverteidungsbatallonen und ließ Anführer von Pogromen erschießen. Viele seiner Mitkämpfer waren Juden (siehe auch Peter Arschinoff, Machno-Bewegung, 1921).
Falsch ist weiters die Behauptung, dass „die Trotzkisten“ nach 1945 behaupteten, die Zionisten hätten mit Hitler paktiert und die Shoah geplant um nachher den jüdischen Staat auszurufen. Die Tatsache, dass es einzelne Trotzkisten gab, die diese antisemitischen Verschwörungstheorien verbreiteten, kann nicht dazu führen, sämtliche Trotzkisten in einen Topf zu werfen, auch nicht aus Gründen des Platzmangels. Noch weniger, als gerade Trotzkisten – etwa von stalinistischer Seite – immer wieder unter antisemitischer Hetze und Verfolgung litten. Dies erwähnt Laqueur leider nicht.
Am Ende, nachdem die jahrhundertelange Verfolgung in den unterschiedlichsten Regionen der Welt beschrieben wurde, konstatiert der Autor, dass der Antisemitismus zwar ein historisches Thema sei, das jedoch noch lange nicht abgeschlossen werden kann. Die Zeit für eine Grabrede ist noch nicht gekommen und die Feindschaft gegenüber Juden als Individuen oder als Kollektiv besteht nach wie vor. Über die Zukunft zu sprechen, ist höchst spekulativ. Unter welchen Umständen wird jene Zeit anbrechen, an der über Antisemitismus als Geschichte gesprochen werden kann?
Das Einzigartige an der Neuerschei-nung ist nicht die Originalität oder
die These, denn beides fehlt zur Gän-
ze, sondern die Fähigkeit, die derart komplexe und facettenreiche, fatale, Geschichte und Aktualität des Antisemitismus und seiner Interpre-tation in einem schmalen Band einer – hoffentlich sehr breiten – Leserschaft näher zu bringen.