In Russland häuft sich die Zahl politisch motivierter Prozesse und Verurteilungen gegen Künstlerinnen und Künstler, einer davon betrifft eine jüdische Theatermacherin, der Unterstützung des Terrorismus vorgeworfen wird.
Von Margarita Godina und Simon Mraz
Am 8. Juli 2024 wurden die Regisseurin Evgenia Berkovich (Jg. 1985) und die Autorin Svetlana Petrychuk (Jg. 1980) für das Stück „Finist, der tapfere Falke“ von einem Moskauer Gericht wegen „Verharmlosung des Terrorismus“ zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Nur zwei Jahre zuvor hatte dasselbe Theaterstück noch zwei Auszeichnungen beim wichtigsten, staatlich finanzierten, Theaterpreis Russlands, erhalten Bei dem Stück geht es um ein heikles Thema: um russische Frauen, die vom Islamischen Staat rekrutiert wurden, um Kämpfer dieser Terrororganisation in Syrien zu heirateten.
Evgenia Berkovich ist dabei nicht die erste in ihrer Familie, die Opfer staatlicher Verfolgung wurde. Ihr Urgroßvater mütterlicherseits, Lev Maizelis, wurde 1938 unter Stalin wegen Verschwörung angeklagt und hingerichtet. Ihr Großvater wollte Regisseur werden, wurde jedoch aufgrund von Quotenbeschränkungen gegen Jüdinnen und Juden in der UdSSR an keiner Theaterschule angenommen. Vielleicht hat Berkovich die Liebe zum Theater von diesem Großvater geerbt, fest steht jedenfalls, dass sie 2008 ein Regie-Studium am renommierten „MHAT“-Studio unter der Leitung von Kirill Serebrennikov begann.
Margarita Godina und Simon Mraz haben für NU mit der Anwältin von Evgenia Berkovich, Ksenia Karpinskaya gesprochen.
NU: Wie haben Sie vom Fall Evgenia Berkovich erfahren?
Karpinskaya: Ich kannte Evgenia, sie war Zeugin in einem anderen Theaterfall – der Anklage gegen den Regisseur Kirill Serebrennikov. Sobald bekannt wurde, dass Evgenia Berkovich und Svetlana Petrychuk verhaftet wurden, wandte sich Kirill an mich. Zuerst schien es, als würden sie freigelassen werden, aber am Abend wurden ihnen Anklagen vorgelegt und wir erhielten die Akten mit einer „Expertise“ des umstrittenen russischen Islamwissenschaftlers Roman Silantyev.
Wie haben Sie anfänglich die Chancen eingeschätzt? Gab es das Gefühl, dass dieser Fall politisch werden könnte?
Am Tag nach der Verhaftung von Evgenia Berkovich war ich im Gericht und hatte die „Expertise“ gelesen. Ich dachte, es sei ein Fehler. Zumal außer dem Experten allen anderen dieses Stück bekannt war, ich hatte es selbst zuvor gesehen. Und es war klar, dass es in dem Stück keine Verharmlosung des Terrorismus gab. Natürlich wollten wir den Fall nicht auf politischer Ebene lösen, da damals schien, dass wenn Evgenia eine politische Gefangene wird, die Chancen, etwas zu beweisen, geringer sein würden. Evgenia erzieht zwei Kinder und wollte sich nie an politischen Aktionen beteiligen.
Heute erscheint jedoch der Name von Evgenia Berkovich auf der Website der führenden russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, die 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden war.
Angesichts der Art und Weise, wie dieser Fall im Laufe eines Jahres behandelt wurde, scheint es sich hier um politische Verfolgung zu handeln. Ich weiß nicht, was das Motiv dafür ist.
Es ist interessant, dass in dem Fall sofort die Expertise des sogenannten „Destruktologen“ Roman Silantyev zum Vorschein kam. Die „Destruktologie“ wurde 2018 von Silantyev selbst entwickelt, doch über diese „Wissenschaft“ gibt es keinerlei Informationen.
Sie werden auch keine finden. Roman Silantyev gründete an der Staatlichen Linguistischen Universität in Moskau ein „Labor für Destruktion.“ Außer ihm arbeiten dort noch drei Angestellte. Wenn Sie die Website des Labors besuchen, werden Sie feststellen, dass Sie in 48 Stunden ein fortgeschrittener Destruktologe werden können. Sie untersuchen destruktive Trends: extremistische und terroristische Organisationen, gefährliche Jugendsubkulturen.
Ist es möglich, sich vor Gericht auf solch eine neue, unbestätigte Wissenschaft zu berufen?
Grundsätzlich lautet die Antwort nein. In der Russischen Föderation gibt es ein Gesetz zur forensischen Untersuchung, das Fälle definiert, in denen sich Ermittler und das Gericht an Sachverständige wenden. Um beispielsweise eine Theaterinszenierung zu bewerten, benötigen sie Expertinnen oder Experten aus diesem Fach.
Die Staatsanwaltschaft hat aber keine Theaterexpertinnen oder -experten eingeladen?
Nein. Darüber hinaus liegen im vorliegenden Fall keine Dokumente vor, die die Qualifikation der vom Russischen Inlandsgeheimdienst FSB bestellten Expertin bestätigen, die eine psychologische und sprachliche Untersuchung durchgeführt hat. Kunstwerke können im Allgemeinen nicht aus sprachwissenschaftlicher und inhaltswissenschaftlicher Sicht beurteilt werden. Denn dann könnten wir genauso behaupten, dass Fjodor Dostojewski zur Ermordung alter Frauen und Lew Tolstoi zum Selbstmord von Anna Karenina aufgerufen hätten. Alle Romane haben Helden mit unterschiedlichen Charakteren, das bedeutet aber nicht, dass die Autorin oder der Autor deren Positionen teilt.
In einem Interview äußerte Roman Silantyev offen antisemitische Ansichten. Daraufhin schickten der Russische Jüdische Kongress und die Verwaltung der Muslime der Russischen Föderation einen Brief an die Staatsanwaltschaft. Hatte dies irgendwelche Konsequenzen?
Wir haben im Interesse von Evgenia Berkovich die Einleitung eines Verfahrens gegen Herrn Silantyev wegen Anstiftung zu Hass und Feindschaft gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen gefordert. Der Russische Jüdische Kongress und wir erhielten jedoch die Antwort, dass in seinen Aussagen nichts strafrechtlich Relevantes gefunden wurde.
Was passiert es jetzt nach der Urteilsverkündung?
Wir warten auf eine Möglichkeit zur Berufung. Doch bisher ist der Fall, wie man behauptet, noch nicht geklärt.
Könnten die jüdische Gemeinde und der Staat Israel darauf Einfluss nehmen?
Ich denke, die jüdische Gemeinde könnte durch ihre Kontakte helfen. Obwohl Evgenia noch keine Staatsbürgerin des Staates Israel ist, haben wir Rückführungsfragen mit israelischen Vertretern besprochen. Aber im Moment denke ich, dass es in Israel leider drängendere Probleme gibt als das Schicksal von Evgenia Berkovich.
Was kann Ihrer Meinung nach in Österreich getan werden und wie könnten die Leser:innen des Magazins dabei helfen?
Je mehr Menschen auf der Welt darüber Bescheid wissen, desto besser, denn diese Angelegenheit ist nicht nur politisch, sie ist absurd. Ein Anti-Terror-Theaterstück, das die Probleme der Gesellschaft, die Verwundbarkeit bestimmter Gruppen bei der Rekrutierung und die mangelnde staatliche Unterstützung dieser Gruppen aufzeigt, wurde für terroristisch erklärt und die Dramatikerin und die Regisseurin wurden auf Basis der Expertise eines Pseudowissenschaftlers ins Gefängnis geschickt. Das ist eine schreckliche Geschichte.
Sie selbst haben einen interessanten Lebenslauf.
Meine beiden Großmütter waren Anwältinnen. Und als ich mich in den 1990er Jahren entschied, Anwältin zu werden, gab es die Hoffnung, dass solche Fälle nicht passieren würden. Es schien, als würde in Russland alles anders sein. Es war unmöglich, sich vorzustellen, dass jemand für die Inszenierung eines Theaterstücks verurteilt würde.
Glauben Sie, dass es eines Tages in Russland besser sein wird?
Nein. Ich bezweifle es sehr. Bisher wird es aus rechtlicher Sicht immer schlimmer.