Dass nach dem 7. Oktober 2023 antisemitische und antiisraelische Inhalte online zugenommen haben, ist inzwischen allgemein bekannt. Aber auch vorgeblich unpolitische Influencer, frauenfeindliche „Pick-Up-Artists“, esoterische „Heiler“ und islamistische Prediger verbreiten online reaktionäre Weltanschauungen und richten diese gezielt an Jugendliche.
Von Isolde Vogel
Osama Bin Ladens „Letter to America“ erzielte kürzlich online Millionen Klicks, die antisemitische Hetzschrift schien plötzlich, wie der rassistische Spruch am Stammtisch, zum guten Ton zu gehören. Inhalte trenden, obwohl und gerade, weil sie Terror verherrlichen, Rassismus verbreiten, Frauen degradieren oder Juden entmenschlichen. Apps wie TikTok, Instagram, Telegram und Twitter offenbaren, wie soziale Medien Echokammern für oft sehr junge User und damit einen Nährboden für reaktionäre Ideologien bieten. Viele Inhalte zielen nicht nur auf die Verbreitung verschwörungsmythischer und mitunter antisemitischer Erzählungen oder etwa die Unterdrückung und Manipulation von Frauen oder Minderheiten, sondern animieren auch viele junge Menschen, ihr Leben auf ähnliche Weise auszurichten. Geboten werden einfache Welterklärungen und Antworten auf Fragen danach „wie Frauen ticken“ oder „wie die Eliten die Welt regieren“, die ihre simplifizierenden und manipulativen Denkweisen widerspiegeln.
Nicht zufällig funktionieren antisemitische Erklärungen, als eine stets vereinfachende Sicht auf das Weltgeschehen, in den schnelllebigen sozialen Medien besonders gut. Antisemitismus beruht auf der Idee einer Verschwörung und der Imagination, sich selbst im widerständigen Protest gegen eine angeblich jüdische Übermacht zu befinden. Judenfeindschaft ist eine zutiefst reaktionäre Ideologie und bietet nicht nur vereinfachende Erklärungen, sondern befriedigt durch diese Simplifizierung auch das Bedürfnis nach Erlösung von allem Elend: „Die Juden“ als angeblich allmächtige Elite seien das absolut Böse und trügen alle Schuld. Antisemitismus ist im Kern immer komplexitätsreduzierend und von verschwörungsideologischen Elementen geprägt.
Die Dynamik wird durch Falschinformation, aber auch die algorithmische Struktur der sozialen Medien bestärkt. Filterblasen sorgen dafür, dass Nutzerinnen und Nutzer vorwiegend Inhalte konsumieren, die ihren bestehenden Überzeugungen entsprechen. Das minimiert die Auseinandersetzung mit gegensätzlichen Perspektiven und führt zur Entstehung von sogenannten Echokammern, in denen abweichende Meinungen leicht ignoriert und reaktionäre Ansichten so gefestigt werden können. Die fehlende Regulierung der Netzwerke ermöglicht es außerdem reaktionären Gruppen und autoritären Regimen, die Apps als Plattform für ihre Propaganda zu nutzen. Ihre geschlossene Sicht auf die Welt und zuweilen auch manch inhaltliche Überschneidung, wie einen antiwestlichen Kurs, den Hass auf moderne Errungenschaften, auf Emanzipation, auf Israel oder worin auch immer das vermeintliche Übel bestehen mag, lassen sich von Telegram bis TikTok anschlussfähig verbreiten.
Besonders codierter, verdeckt geäußerter Antisemitismus, der Jüdinnen und Juden nicht explizit anzugreifen scheint, floriert in den sozialen Medien und bleibt oft unter dem Radar. Viele Plattformen sind gar nicht darauf ausgelegt, diesen zu erkennen oder zu unterbinden. Aus der extremen Rechten als bewusste Verschleierungsstrategie bekannt, gehört dieser codierte Judenhass mittlerweile auch online zum standardisierten antisemitischen Ton: Da spricht man dann von „den Rothschilds“ oder „Zionisten“ statt „den Juden“, oder vom Kampf gegen die „New World Order“ statt von einer angeblichen „jüdischen Weltverschwörung“. In jüngster Vergangenheit kristallisiert sich eine überraschend konsequente Übernahme bekannter rechtsextremer Narrative in der antisemitischen Agitation verschiedener politischer Couleur heraus: Von der NS-verharmlosenden Schlussstrich-Forderung in „Free Palestine from German Guilt“ über eine völkisch-verklärende Sicht auf Palästina bis hin zu antiamerikanischen Weltverschwörungsmythen à la „USrael“ finden sich, wenn auch ursprünglich aus der extremen Rechten stammend, auch auf linken antiisraelischen Protesten. Abwehrstrategien, wie die Rede von der „Antisemitismuskeule“ oder einer angeblich manipulierten „Lügenpresse“, dienen nun auch außerhalb der politischen Rechten zur Verschleierung des eigenen Antisemitismus.
In den sozialen Medien dienen selbst Emojis dazu, antisemitische, geschichtsrevisionistische oder terrorverherrlichende Botschaften subtil zu transportieren. Etwa das blaue Cap, das als Symbol für den Vorwurf der Lüge („capping“ = engl. umgangssprachlich lügen) dient und in Kommentarfeldern Shoah-relativierend eingesetzt wird. Ganz ähnlich wird das Holztür-Emoji genutzt – als codierter Hinweis auf die Leugnung des NS-Massenmordes und die Verschwörungsfantasie, die Gaskammern der Nazis hätten Holztüren gehabt und seien somit unmöglich Todesstätten gewesen. Auch der Kugelschreiber bedient eine geschichtsrevisionistische Erzählung: Mit dem Symbol wird die Fälschung der Tagebücher Anne Franks suggeriert, die, so wird fälschlicherweise behauptet, mit in den 1940er Jahren noch gar nicht erhältlichen Kugelschreibern verfasst worden seien. Geschichtsrevisionistische, antisemitische Mythen verbreiteten sich jedoch nicht nur Shoah-bezogen mit Emoji-Nutzung: Auch das Symbol des roten Dreiecks, das ursprünglich von der Hamas bis zum islamischen Regime im Iran als antisemitische Feindmarkierung dient, wird online verwendet, um terrorverherrlichenden Content zu verbreiten.
Die Hemmschwelle antisemitische Äußerungen zu tätigen ist durch solche codierten Formen im öffentlichen Raum, aber gerade in der Anonymität des Internets, gesunken. Und die steigende online-Verbreitung zeugt von einer schleichenden Normalisierung reaktionärer Ideologien. Doch die Verbreitung von Antisemitismus kam nicht erst mit dem Zeitalter der sozialen Medien und sie passiert nicht nur online. Judenfeindliche Einstellungen existieren in den Menschen, die ihre Bedürfnisse nach Welterklärung mit Judenhass beantworten, ob on- oder offline. Gleichzeitig bedingen Darstellungsformat und der schnelllebige Charakter von Social Media die Verbreitung: Dreisätzige Posts oder 40-sekündige Videos sind nicht in der Lage, mit Tiefe und die Komplexität wahrend Antworten auf gesellschaftspolitische Fragestellungen zu diskutieren. Soziale Medien ermöglichen Echokammern und sie begünstigen die stete Normalisierung vereinfachender, reaktionärer Weltbilder – und somit auch Antisemitismus.