Nach der Sommerpause kehrt im Europäischen Parlament wieder business as usual ein. Dazu gehören offenbar auch antisemitische, rassistische und faschistische Verbalausritte, zu denen sich einzelne populistische Abgeordnete immer wieder versteigen. Eine Besserung ist nicht in Sicht, im Gegenteil.
Von Heike Hausensteiner
4. Juli 2006: Der polnische Europa-Abgeordnete Maciej Giertych lobt im EU-Parlament in Straßburg die früheren Diktatoren Spaniens und Portugals, Francisco Franco und António Salazar. Sie hätten „katholische Werte verteidigt“ und die weitere Ausbreitung des Kommunismus in Westeuropa verhindert. Man möge nicht vergessen, der Nazismus in Deutschland und der Faschismus in Italien seien von sozialistischem und atheistischem Geist genährt gewesen, so Giertych. Er gehört der rechtsextremen und antisemitischen „Liga Polnischer Familien“ an. Die Partei sitzt in der polnischen Regierung, hat aber im EU-Parlament in keiner Fraktion Aufnahme gefunden. Bei der EU-Wahl 2004 hatte sie fast 16 Prozent erreicht. Die Sozialdemokraten im Europaparlament drohen noch am selben Tag der linksgerichteten Smer-Partei des neuen slowakischen Premiers Robert Fico mit dem Ausschluss aus der Parteienfamilie: Ficos Sozialdemokraten bilden eine Koalitionsregierung mit der rechtsextremen Slowakischen Nationalpartei und der Bewegung für eine demokratische Slowakei des umstrittenen Ex-Premiers Vladimir Meciar. 20. Juni 2006: Bundeskanzler Wolfgang Schüssel zieht im Europaparlament in Brüssel Bilanz über den österreichischen Vorsitz. Aus Protest gegen seine Unterstützung für eine neue EU-Verfassung stimmt der EU-Abgeordnete Gerard Batten von der UK Independence Party ein britisches Anti-Hitler-Lied an. „Wen hältst Du wohl zum Narren, Schüssel?“, singt Batten in Abwandlung des Lieds „Wen hältst Du wohl zum Narren, Hitler?“. Und weiter: „Wir sind die Jungs, die Dich stoppen!“ Die UK Independence Party, eine rechts-nationale Anti-EU-Partei, hatte bei der EU-Wahl auch mehr als 16 Prozent erzielt. April/Mai 2006: Chris Davies legt nach antisemitischen Äußerungen den Vorsitz der britischen Liberalen im EU-Parlament zurück. Israel verfolge eine rassistische Apartheidpolitik gegenüber den Palästinensern. Er lehne den Einfluss der jüdischen Lobby ab, die in vielen Ländern eine viel zu große Mitsprache im politischen Entscheidungsprozess habe, meint Davies u.a. in einem längeren via E-Mail ausgetragenen Streit mit einer israelischen Leserin der „Jewish News“. Er bietet der Leserin eine Entschuldigung an, sollte sie ebenfalls mit der Politik der israelischen Regierung nicht einverstanden sein. Den Kapo spielen 3. Juli 2003: Die italienische EU-Ratspräsidentschaft ist keine zwei Tage alt. Der umstrittene Regierungschef Silvio Berlusconi präsentiert dem EU-Parlament das italienische Vorsitzprogramm. Dem kritischen Europa-Parlamentarier Martin Schulz von der SPD schlägt er vor, in einem Film über Konzentrationslager, der gerade in Italien gedreht wird, den Kapo zu spielen. „In dieser Rolle wären Sie perfekt, Herr Schulz!“ Auf eine Welle der Empörung folgt eine wochenlange diplomatische Eiszeit zwischen den Regierungen in Berlin und Rom. Wie viel Nazismus oder Faschismus (v)erträgt das Europäische Parlament? „Gar keinen“, ist die Frage für Sonja Puntscher-Riekmann leicht zu beantworten. Mehr Sorgen machen der Politologin, Vizerektorin der Universität Salzburg und Leiterin der Forschungsstelle für europäische Integration an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, die „latenten, oft unbewussten“ Formen von Antisemitismus. Eine lange Tradition habe in Österreich vor allem der „linke Antisemitismus“ im Zusammenhang mit der Errichtung eines Palästinenserstaates auf Kosten Israels. Die Europäisierung ist noch nicht bis in die letzten Winkel des Kontinents fortgeschritten. Es war der Friedensgedanke, der bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft im Vordergrund stand. Militärische und diktatorische Regime wurden von demokratischen Strukturen abgelöst. Diese haben sich speziell in Griechenland, Spanien und Portugal seit dem EU-Beitritt in den 1980er Jahren festigen können. Rassistische, antisemitische, ausländer- oder menschenfeindliche Ausritte bei Politikern wie Bürgern sind aber immer noch möglich — und keine Seltenheit. Eine große Gefahr besteht nach Ansicht von Sonja Puntscher-Riekmann in den jungen Demokratien des ehemaligen Ostblocks. Das sei ein „sensibles Gebiet“, das die populistischen, nationalistischen oder rechtsextremen Politiker als „Sprungbrett“ nützen wollen. Die Gefahr bestehe aber in ganz Europa. Das Problem ist: „Diese Menschen werden gewählt.“ Le Pen, Mussolini, Mölzer So sitzen in den Reihen der Fraktionslosen des Europa-Parlaments die britischen EU-Kritiker und die polnischen Ultra-Konservativen etwa Seite an Seite mit dem französischen Front National-Führer Jean-Marie Le Pen, der italienischen Duce-Enkelin Alessandra Mussolini oder dem Österreicher Andreas Mölzer. Sie seien ohnehin isoliert, „eine gewaltige Minderheit und haben in der europäischen Politik keinen Platz“, beruhigt der ÖVP-Abgeordnete Othmar Karas im Interview. Es gebe „immer nur Einzelentgleisungen, die darauf aufmerksam machen, dass es sie gibt“. Karas sieht „keine Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat“. Die Zwischenrufe „von extrem links bis extrem rechts“ seien für ein Parlament „so lange aushaltbar, wie eine Demokratie damit umgehen kann“. Nationalpopulistischen Parteien, „die meist antisemitische Ressentiments transportieren“, könne ein Parlament immer nur so begegnen, „wie es Parlamenten zusteht: mit sachlich-rationaler Gegenargumentation“, meint der Politikwissenschafter Claus Leggewie von der Universität Gießen gegenüber NU. Sind nun Populisten als „Stimmen unter anderen“ hinzunehmen oder soll die Freiheit der Meinungsäußerung eingeschränkt werden? „Das ist die wichtigste Frage überhaupt“, erklärt Puntscher-Riekmann. Rechte zu suspendieren, dazu könne sich auf europäischer Ebene im Moment niemand durchringen. Die brutalen antisemitischen, rassistischen und homophoben Vorfälle der vergangenen Monate in Belgien, Frankreich, Deutschland und Polen hat als einzige Institution das EU-Parlament verurteilt. Eine entsprechende Resolution verabschiedeten vornehmlich die Sozialdemokraten und Grünen vor der Sommerpause. Theoretisch räumt der EU-Vertrag (Artikel 7) rechtliche Maßnahmen ein. Sie können von der Herabstufung der diplomatischen Beziehungen („Sanktionen“) bis zum Ausschluss eines Mitgliedslandes reichen. Das müssten aber die Mitgliedstaaten, sprich: die Regierungen, einstimmig beschließen. Leggewie lehnt hier Verfassungsschutzmaßnahmen ganz klar ab. Es sei „nicht per se schlecht, dass sich außerparlamentarisch relevante Kräfte auch parlamentarisch abbilden“; so könne man sie besser einschätzen. Er sei „radikaler Anhänger von free speech, auch für die Feinde der Demokratie. Regierungsbildungen mit solchen Leuten kann man aber vermeiden, auch in Österreich“. Puntscher-Riekmann lehnt nationale Allianzen mit diesen Parteien ebenfalls ab: „Damit gibt man nach, das macht sie salonfähig.“ Das öffne eine Spirale nach unten, die Geschichte habe das bereits mehrfach bewiesen. Wer einen „ultraliberalen Standpunkt“ einnehme, müsse darauf vertrauen, dass eine gewisse Verwahrlosung der politischen Kultur bei der nächsten Wahl korrigiert werde. Dass das funktioniert, bezweifelt Puntscher-Riekmann hingegen. Als Gegenmaßnahmen fordern die Experten vielmehr strenge publizistische und parlamentarische Kritik. Neben kritischem Journalismus ist mehr Aufklärung an den Schulen für Puntscher-Riekmann „ein Mindestmaß“. WEB-TIPPS: www.europarl.europa.eu/default.htm www.europarl.at/europarl/default.pxml