Monatelang protestierten Hunderttausende gegen Netanjahus Justizreform. Doch noch bevor diese ganz gekippt ist, hat die Protestbewegung eine neue Aufgabe gefunden: Sie hält das Land am Laufen. Eine Reportage.
Von Valentin Schmid (Text und Fotos)
Chaim sitzt auf einer Plastikkiste vor seiner Obstplantage. Hier baut er Orangen, Zitronen und Grapefruits an. Auf seinem Kopf liegt eine kleine, bunte Kippa – wobei ein Sonnenschutz sicher hilfreicher wäre. Doch der Farmer hat gerade andere Sorgen: Die Zitronenbäume tragen in diesem Jahr zum ersten Mal Früchte. Und genau dann kam der Krieg.
Chaim lebt im Moshav Shokeda, das 1957 von Juden aus Marokko gegründet wurde. Keine acht Kilometer von Gaza entfernt. Direkt neben dem Kibbutz Be’eri sowie dem Gelände des Nova-Festivals. Nirgends hat die Hamas am 7. Oktober so gewütet wie hier. „Meine sechs Kinder sind evakuiert“, meint Chaim. Aber er selbst könne nicht gehen, wegen der Ernte.
Eigentlich ständen ihm jetzt zehn thailändische Fremdarbeiter zur Seite, die zehn Tage beim Pflücken der Früchte helfen. Doch die sind bei Kriegsbeginn alle ausgereist – und schwer zu ersetzen. „Zehn Freiwillige ersetzen einen Thailänder“, überschlägt der Farmer mit einem Grinsen im Gesicht.
Hilfe kommt im Reisebus
Vier Stunden zuvor. Die rote Digitaluhr zeigt 06:15, als die letzten Helfer in Jerusalem in den Reisebus steigen. Es ist Freitag, in Israel allgemein arbeitsfrei. Eingeladen hat „Umarmen und Pflücken“ – eine Initiative, die den kriegsgeplagten Landwirten am Gazastreifen helfen möchte. Gekommen sind gut 30 Israelis. Die meisten davon kennen sich aus der linkspolitischen Szene in Jerusalem. Einige tragen noch Slogans auf ihrem T-Shirt, die an die langen Proteste gegen die Justizreform im vergangenen Jahr erinnern.
Nachdem Israels oberstes Gericht Anfang Jänner dessen Kern für nichtig erklärt hat, ist diese Reform nun endgültig zum Scheitern verurteilt. Darin sind sich zumindest im Bus alle einig. Doch auch die Katastrophe des 7. Oktobers sei erst durch die falschen Prioritäten der Regierung in den vergangenen Jahren möglich geworden. „In den letzten 15 Jahren“, konkretisiert die Juristin Ayelet. „Nämlich, seitdem Benjamin Netanjahu regiert. Nur mit einer kurzen Unterbrechung.“
Ein anderer Erntehelfer, Michel, spricht mit Blick auf den Oktober vom „Glück im Unglück“. Während viele Behörden durch die Wirren der Justizreform abgelenkt waren und kaum Hilfe für Zivilisten und Evakuierte leisten konnten, sei die Protestbewegung umso besser organisiert gewesen.
Über WhatsApp das Land retten
Was soll das bedeuten? Ein Blick in die WhatsApp-Gruppe von „Das gemeinsame Haus“ – einer Art Dachverband der Jerusalemer Protestgruppen – gibt Aufschluss: Als die Hamas am 7. Oktober ihren Terrorangriff startete, waren schon um 09:25 Uhr alle für den Abend geplanten Demonstrationen abgesagt. Um 15:31 Uhr ging eine Hotline für Bürger in Not an den Start. Hilfsgüter wurden verteilt und Babysitter für eingezogene Reservisten vermittelt. In den folgenden Wochen kompensierten diese NGOs und Vereine genau die Hilfsangebote, auf welche die Regierung nicht vorbereitet war.
14 Uhr. Die Stacheln der Zitronenbäume sorgen dafür, dass das Pflücken nicht allzu viel Freude bereitet. Dazu kommen noch die bedrohlichen Geräusche aus Gaza, hauptsächlich Artilleriefeuer und Rettungshubschrauber. Aber immerhin: Der Geruch reifer Zitronen liegt in der Luft. Die Erntearbeit ist nicht sehr anstrengend, macht den Kopf frei, schafft Raum für Gespräche.
Smadar und Michal, zwei pensionierte Lehrerinnen, sind in ein Gespräch vertieft. Aus ihnen spricht der Frust. Jahrzehnte hätten sie Kinder zum Frieden erzogen – doch der 7. Oktober habe sämtliche Hoffnungen zerstört. In ihrem Unterricht, versichert Smadar noch einmal, habe sie auch über die Nakba gesprochen, obwohl das die Lehrpläne nicht vorsahen. Der Begriff meint die Flucht und Vertreibung von Palästinensern im Zuge des Krieges zwischen 1947 und 1949.
Von der Welt im Stich gelassen
Solange es keinen Kulturwandel auf palästinensischer Seite gebe, meint Michal, sei auch kein Friede in Sicht. „Die Kinder dort in Gaza werden dazu erzogen, uns Juden zu töten.“ Auch die Frage, warum Israels „Hasbara“ (wörtlich „Erklärung“, böse Zungen übersetzen aber „Propaganda“) nicht funktioniere, treibt die Frauen um. Vor allem von der internationalen Linken fühlen sie sich massiv im Stich gelassen. Solidarisierten sich doch viele unverhohlen mit der Hamas.
Doch auch intern ist das linke Lager in Israel zerrüttet. „Hätten wir nicht 2005 den Gazastreifen geräumt, wäre der 7. Oktober nicht passiert“, meint Sophie, die früher für einen Geheimdienst gearbeitet hatte. So aufwendig der Schutz der Siedlungen gewesen sei, so sehr habe die Präsenz in Gaza doch der militärischen Aufklärung gedient. „Trotzdem war der Rückzug richtig“, hält Ayelet dagegen. Sie will sich noch nicht ganz vom „Land gegen Frieden“-Konzept lossagen.
Ein Neuanfang muss her
Die beste Laune versprüht an diesem Tag eindeutig Shanna Orlik. Die gebürtige Französin ist vor 10 Jahren nach Israel eingewandert und gehört zu den Initiatoren von „Umarmen und Pflücken“. Um ihre Schulter hängt ein weißes Megafon mit zahlreichen politischen Aufklebern. Das sei auch oft in Verwendung. „Vielleicht muss unser Protest gegen die Regierung nach dem Krieg noch radikaler werden, wenn Netanjahu nicht gleich zurücktritt.“ Die 32-Jährige träumt von einem politischen Neuanfang in Israel. „Eine Basisbewegung. Wie bei Barack Obama oder Emmanuel Macron.“
Konkret hofft sie auf eine Parteigründung des ehemaligen Top-Generals und Mitglied der linken Meretz-Partei, Jair Golan. Als Schlüsselfigur im Protest gegen die Justizreform galt der im rechten Lager lange als Verräter. Doch der 7. Oktober machte Golan zum Nationalhelden. Mit geliehener Waffe und seinem privaten Auto fuhr er den Terroristen entgegen, rettete dutzende Menschen vom Nova-Festival. Der 61-Jährige verkörpert eine Kombination aus militärischer Potenz und linker Politik, wie sie in Deutschland undenkbar scheint – doch in Israel Tradition hat.
Sobald der politische Wechsel gekommen sei, meint Shanna weiter, müssten die Zeichen jedoch wieder auf Versöhnung gestellt werden. Versöhnung mit den Religiösen und Konservativen. Sie schlägt vor, nicht mehr von der Zweistaatenlösung zu sprechen. Eine „Separierung von den Palästinensern“ sei zwar im Prinzip dasselbe, würde aber mehr Israelis überzeugen. Shanna erwartet, dass die israelische Gesellschaft nach dem Krieg auf harte Proben gestellt wird. Immerhin einen Erfolg könne sie heute schon verzeichnen. „Chaim sagte mir, er habe noch nie so richtig mit Linken gesprochen, bevor wir heute kamen.“