Die Wiener Kultusgemeinde wirbt verstärkt um Juden aus Osteuropa. Ziel ist es, die Mitgliederzahl bis ins Jahr 2020 auf 20.000 bis 25.000 zu steigern. Eine Initiative, die für Irritationen sorgt.
Von Heike Hausensteiner
„Die Russen kommen!“ wurde 1945 zum Schreckensruf unter den Ostdeutschen. 50 Jahre später kamen „die Russen“ auf zivilisierte Weise wieder. Sie verhalfen den nach der Shoa ausgedünnten jüdischen Gemeinden in Deutschland zu neuem Aufschwung. Anfang der 1990er Jahre machte das eine Sonderregelung mit der Regierung unter Helmut Kohl möglich. Sehr zum Missfallen von Israel. Juden aus dem Osten sollen nun die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) in Österreich stärken. Der Wunsch birgt einiges an Sprengkraft, auf internationaler – und wohl auch nationaler –, aber auch innerjüdischer Ebene. „Die wollen, aber wir können noch nicht“, behauptet dagegen IKG-Präsident Ariel Muzicant im Telefoninterview. Als neue Mitglieder angesprochen werden sollen vor allem Juden aus den einstigen Sowjet- und Ostblockländern. Neben Russen sind das u.a. Ukrainer sowie Bulgaren und Rumänen aus der Bukowina, dem ehemals östlichsten Kronland der österreichisch-ungarischen Monarchie, mit der Hauptstadt und einstigen jüdischen Hochburg Czernowitz. Also Zuwanderung, um das eigene Überleben zu sichern – und um den Preis, dass andernorts das jüdische Leben ausstirbt. Muzicant hatte gegenüber der Jewish Telegraphic Agency Österreich als attraktive Destination für Juden angepriesen. In der Folge echauffierte sich der ehemalige Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses, Avi Becker, über eine derart „unübliche Marketingkampagne“ in der israelischen Tageszeitung HAARETZ. „Versuche von jüdischen Gemeinden in der Diaspora, jüdische Immigranten anzulocken, sind nicht neu; aber seit der Gründung des Staates Israel hat die jüdische Welt keine derart unverfrorene öffentliche Verkaufskampagne erlebt“, schrieb Becker im September des Vorjahres. Laut Muzicant habe Österreich „die beste Gemeindeinfrastruktur in Europa“: 41 Rabbiner, vier jüdische Schulen, sechs koschere Restaurants und pro Jahr mehr als 300 jüdische Veranstaltungen. Zudem gebe es im Gegensatz zur Ukraine – aber auch zu Frankreich – kaum antisemitische Vorfälle. „Hier werden Juden nicht auf der Straße attackiert.“ Das sei der „Versuch eines Relaunches der Situation der Juden in Österreich vor dem Jahr 1938“, präzisiert der IKG-Präsident im Interview. Bis zu 200.000 Juden lebten vor dem Zweiten Weltkrieg in Wien (damals Europas zweitgrößte Gemeinde nach Warschau). Das Judentum habe in Österreich seit Beginn des 19. Jahrhunderts große Tradition gehabt, „das wollen wir wieder aufleben lassen“. Im Moment hat die IKG rund 7.000 Mitglieder – wobei in Österreich mehr Juden leben, als die Kultusgemeinde zahlende Mitglieder hat. So gibt es bekennende Juden, die aus der Gemeinde ausgetreten sind, wieder andere sind Mitglieder, aber – ähnlich wie im Christentum – keine praktizierenden Juden. Ziel der Kultusgemeinde ist es, bis etwa 2020 die Mitgliederzahl auf 20.000 bis 25.000 zu steigern. Um die Integration von jüdischen Migranten zu ermöglichen, fehlen aber noch die notwendigen Grundlagen, etwa in Bezug auf Einreisegenehmigungen und die Voraussetzungen innerhalb der Kultusgemeinde, berichtet Muzicant. Die Schulen und die sozialen Einrichtungen müssten erst ausgebaut werden. Nach dem positiven Abschluss der Restitutionsverhandlungen Ende des Vorjahres sei man jetzt finanziell in der Lage, die Strukturen aufzubauen. „Ich brauche mindestens zwei Jahre für den Bau der Schule“, sagt Muzicant. „Nicht vor 2007, 2008“ sei daher mit der Neuaufnahme von Juden aus dem Osten zu rechnen. Es sollten nur an die hundert Leute pro Jahr sein, beschwichtigt der Präsident. Im Übrigen will die IKG nicht den Fehler machen, „arbeitslose Zuwanderer“ zu holen. Sondern diese sollten dann in Berufszweigen arbeiten, „wo schon heute Bedarf herrscht“. Wie das konkret funktionieren soll, möchte Muzicant nicht sagen. Er kündigt Arbeitsgruppen an, will aber nicht mehr verraten. „Ich werde das nicht über die Medien spielen.“ Zuerst müsse man die sozialen, medizinischen, sprachlichen und beruflichen Voraussetzungen schaffen. „Der Wunsch steht, das Projekt müssen wir erst aufziehen.“Dem Vorhaben könnte Österreichs Staatsbürgerschaftsgesetz zugute kommen: Bis in die dritte Generation Anspruch auf die österreichische Staatsbürgerschaft haben all jene, deren Familie bis vor 1937 jüdisch war und bis vor 1944 vertrieben wurde. In Deutschland hat diese Form der Zuwanderung zu massiven Problemen geführt. Fast 200.000 Juden aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion haben sich seit Anfang der 1990er Jahre dort niedergelassen. Wer wenigstens einen jüdischen Elternteil belegen konnte, durfte einreisen. Dieses Angebot nutzten auch Antragsteller, die lediglich einen jüdischen Vater nachweisen konnten. Jude ist aber nach orthodoxem Verständnis nur, wer eine jüdische Mutter hat. Laut einem Bericht der Frankfurter Rundschau boomte auch der Handel mit gefälschten jüdischen Pässen. 30 bis 40 Prozent der neuen Gemeindemitglieder aus den ehemaligen GUS-Staaten sollen sich ihre Visa erschlichen haben, schätzt Julius Schoeps. Der Historiker ist Leiter des Moses-Mendelssohn-Zentrums für Europäisch-Jüdische Studien an der Universität Potsdam und war Gründungsdirektor des Jüdischen Museums der Stadt Wien (1993–1997). Zu dem Vorhaben in Österreich wollte er trotz mehrmaliger Anfragen nicht Stellung nehmen. „Wir wollen nicht riesige Probleme wie in Deutschland schaffen“, beteuert Ariel Muzicant. Der in Haifa geborene langjährige IKG-Präsident will wohl auch einen Konflikt mit Israel vermeiden. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es erstes Zielland der jüdischen Migranten bzw. Heimkehrer. Die USA, einst das zweitgrößte Aufnahmeland, beschränkten die Zahl der osteuropäischen Juden Ende der 1980er Jahre auf 5.000 pro Jahr. Dem palästinensischen Terror in Israel zogen immer mehr das soziale Sicherheitsnetz in Deutschland vor; ausgerechnet die Bundesrepublik wurde denn auch zur beliebtesten Adresse von jüdischen Migranten. Israel braucht aber eine kontinuierliche Einwanderung, damit sich die politischen Gewichte mittel- bis langfristig nicht zu Gunsten der Palästinenser verschieben – zumal angesichts der vergleichsweise höheren Geburtenrate in der arabischen Bevölkerung. Auf israelischen Druck schränkte daher die rot-grüne Regierung 2005 den Zuzug von Juden wieder ein: Diese dürfen nunmehr höchstens 45 Jahre alt sein – ausgenommen die noch lebenden Opfer der NS-Diktatur – und keine staatliche Unterstützung beziehen, sie müssen Deutschkenntnisse sowie die Aufnahme in einer Gemeinde nachweisen. Ausnahmen gibt es für Härtefälle bei Familienzusammenführungen. Ob Zuwanderer aus Osteuropa, Russland oder anderen ehemaligen Sowjetstaaten ihre jüdischen Wurzeln in Österreich authentisch werden nachweisen können, bezweifelt Peter Stiegnitz gegenüber NU. „Aber Muzicant möchte seine Position in der Gemeinde stärken.“ Der Wiener Soziologe mit ungarischen und jüdischen Wurzeln ist vor 25 Jahren aus der IKG ausgetreten. Er hält es dennoch für wichtig, dass die Kultusgemeinde der mitteleuropäischen Tradition gemäß aschkenasisch bleibt. „Noch“ seien die Aschkenasen in der Mehrheit hier. Doch sollten die Sefarden – etwa durch starken russischen Zuzug – eines Tages die Oberhand in der Kultusgemeinde bekommen, wäre das „vielleicht gar nicht schlecht“, spielt Stiegnitz auf die inneren Querelen in der IKG an. Wien hat bereits jetzt einen hohen Anteil sefardischer Juden aus Georgien, Usbekistan, Tadschikistan oder Aserbaidschan. Die Juden aus der Ukraine bzw. anderen mittel- und osteuropäischen Staaten sind hingegen Aschkenasen. Faktum ist, dass die IKG neue Mitglieder braucht. Man ist sich dessen bewusst, dass nur so die jüdische Gemeinschaft in Österreich langfristig eine Überlebenschance habe. Jene Generation, die am meisten davon betroffen sein wird, repräsentiert der 26-jährige Jugend- und Kulturreferent der IKG, Maxim Slutski. Er wurde in der Ukraine (Kiew) geboren und kam über Israel, Frankreich, Deutschland und die USA nach Österreich. Wer, wenn nicht er sollte den Zuzug von Juden aus Osteuropa befürworten? Das profil adelte ihn sogar zum „personifizierten Aufbruch“ für die IKG. Doch seit der Titelgeschichte „Junge Juden in Österreich“, die im Nachrichtenmagazin vor kurzem erschienen ist, hat Slutski massive Schwierigkeiten in der IKG – und darf NU diesmal keine Fragen beantworten. „In dieser sensiblen Frage ist die Zeit noch nicht so weit“, beschwichtigt Muzicants Büroleiterin in der IKG, Erika Jakubovits. Die Aussagen von Muzicant seien „aus dessen Wunsch und der Notwendigkeit heraus“ zu verstehen. „Anscheinend nehmen andere Menschen diese Frage ernster als wir derzeit. Priorität haben für uns andere Fragen, die finanzielle Situation, die neue Schule, das neue Altersheim.“ Aber wenn die Gemeinde eine höhere Sterberate als Geburtenrate hat und künftig bis zu 25.000 Mitglieder verzeichnen soll, ist so viel Zeit auch wieder nicht. „Da haben Sie sicherlich Recht“, gibt Jakubovits zu. Innerhalb der Kultusgemeinde war das Thema bisher offiziell nicht auf der Tagesordnung, „sonst würde es einen Aufschrei geben“, heißt es. Von NU dazu befragt, erfahren so manche Gemeindemitglieder – und auch Funktionäre – zum ersten Mal von dem Vorhaben. Andere haben davon schon gehört. Dabei stand das Thema bereits vor fünf Jahren zur Diskussion bei der Sommerakademie des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich. Der Demograf Sergio della Pergola von der Hebrew University of Jerusalem prognostizierte damals: „Die Ost-West-Migration, die schon immer in der Geschichte vorhanden war, ist beinahe erschöpft.“ Auch Jossif Sissels, der Vorsitzende der Juden in der Ukraine und ehemaliger Dissident, meint: „Die meisten, die auswandern wollen, sind schon weg.“ 2004 seien 6.000 bis 7.000 ukrainische Juden ausgewandert, zehn Jahre davor seien es noch 40.000 gewesen. „Jüdische Auswanderung steht in keinem direkten Zusammenhang mit der Situation in der Ukraine oder dem Wunsch Österreichs.“ Der IKG-Präsident hält an seinem Vorhaben fest. Vorerst beschränkt man sich in der Kultusgemeinde auf einen Appell im Internet: „Wir brauchen neue Mitglieder, wir suchen neue Mitglieder“, heißt es auf der Homepage. Abzuwarten bleibt, ob es auch Zeitungsinserate wie in Südamerika geben wird. „Das wäre eine Möglichkeit“, meint Jakubovits. Man müsse aber behutsam vorgehen, um nicht „eine Welle von Zuwanderung auszulösen“. Ob die Kultusgemeinde gedenkt, auch die ausgetretenen Mitglieder wieder zurückzuholen, um die Gemeinde zu stärken, ist nicht bekannt. ASCHKENASEN UND SEFARDEN Unter den vielfältigen Strömungen des Judentums stellen in Europa die Aschkenasen und die Sefarden (oder Sfarden bzw. Sfardim, wie sie sich selbst nennen) die größten Gruppierungen dar. Nach der Zerstörung des Tempels von Jerusalem durch die Römer 70 n.Chr. strömten einerseits die später so genannten „Sfardim“ in Richtung Iberische Halbinsel aber auch in den Kaukasus, andererseits bildeten sich in Mitteleuropa (im Kontinentaleuropa nördlich der Alpen) die „Aschkenasim“ heraus. Beide Gruppen haben eigene Auslegungs- und Gottesdiensttraditionen. Die orientalische Lebensweise der Sfardim äußert sich auch in der höheren Geburtenrate. Die unterschiedlichen Traditionen werden mehr oder weniger streng befolgt: Während die einen Aschkenasim keinesfalls bei einem koscheren Fleischhauer für Sfarden einkaufen würden (der Unterschied liegt im Schächten, Anm.) – und umgekehrt, befürworten andere sogar aschkenasisch-sefardische Mischehen. Heike Hausensteiner ist freie Journalistin und schreibt unter anderem für „Die Presse“ und „Salzburger Nachrichten“. Die gebürtige Burgenländerin (verheiratet, eine Tochter) studierte Romanistik in Wien, Paris und Mailand sowie European Studies an der Donau-Universität Krems.