Bradley Coopers Biopic „Maestro“ zeichnet Leben und Lieben des herausragenden Musikgenies Leonard Bernstein nach.
Von Gabriele Flossmann
Der Vorsatz, Leonard Bernstein so genau wie möglich zu porträtieren, hat dem Schauspieler und Regisseur Bradley Cooper nicht nur Lob eingebracht. So wurde Kritisiert seine Nasenprothese als „Jewfacing“ kritisiert (siehe Kommentar S.59). Abseits dessen sorgen die Bilder des Kameramanns Matthew Libatique für Aha-Momente. So etwa in der ersten Einstellung, die – wie alle Flashbacks – in Schwarzweiß gehalten ist. Da liegt er. Im Bett mit einem anderen Mann. Womit gleich zu Beginn etabliert wird, dass der Mann, in dem es in diesem Film geht, Männer liebt. Dann gleitet die Kamera In einer nahtlos durchgehenden Sequenz, die metaphorisch wie buchstäblich die Lücke zwischen dem privaten und dem öffentlichen Leben Bernsteins schließen soll, aus dem Schlafzimmer in die David Geffen Hall des Lincoln Centers.
Der 1918 geborene Sohn jüdisch-ukrainischer Eltern, der stets politisch aktiv war, sich für die Rechte der Afroamerikaner einsetzte, gegen Atomwaffen protestierte, für Abrüstung kämpfte und als einer der ersten Benefiz-Konzerte für Aids-Opfer gab, leitete die größten Orchester rund um den Globus, komponierte zahlreiche Stücke und Musicals, wurde mit Auszeichnungen überhäuft, darunter 16 Grammys, sieben Emmys, zwei Tony Awards und einem Kennedy-Preis. Der Preis für seine beispiellose Karriere: Phasen von Hochgefühl und exzessiver Lebensgier wechselten ab mit Zeiten tiefer Depression und Angst vor dem künstlerischen Versagen. Bernstein rauchte bis zu 100 Zigaretten am Tag, trank flaschenweise Ballantine’s Scotch und betäubte sich mit Schmerz- und Aufputschpillen.
1951 heiratete er die chilenisch-amerikanische Schauspielerin Felicia Montealegre, die Ehe hielt bis zu Felicias Tod im Jahr 1978. Obwohl das Paar ein gemeinhin glückliches Familienleben mit seinen drei Kindern führte, kann von einer Nullachtfünfzehn-Ehe keine Rede sein. Denn Lenny war homosexuell – und das wusste seine Frau auch, wie später veröffentlichte Briefe belegen. Zur ehelichen Katastrophe kam es 1976, als der Dirigent immer mehr Zeit mit dem Studenten Thomas Cothran verbrachte. Nach einem Ultimation Felicias entschied sich Bernstein für den jungen Mann, kehrte aber, als bei Felicia Krebs diagnostiziert wurde, zu ihr zurück und blieb bis zu ihrem Tod.
Um bei der ungewöhnlichen Lebensgeschichte von Leonard Bernstein möglichst nah an der Wahrheit zu bleiben, arbeitete Cooper eng mit den drei gemeinsamen Kindern von Leonard Bernstein und Felicia Montealegre zusammen, mehrere Jahre begleiteten Jamie, Alexander und Nina Bernstein die Entwicklung des Films.
Sex and Cigarettes
Ein mutiger Aspekt des Biopics äußert sich darin, dass Cooper den visuellen Stil der Aufnahmen an die jeweilige Zeit anpasst, beginnend im Jahr 1943, als der 25-jährige Bernstein in letzter Minute in der Carnegie Hall für den erkrankten Dirigenten der New York Philharmonic einspringt. Obwohl er keine Zeit zum Proben hat, schwingt er den Taktstock so brillant, dass sofort klar ist: A Star is born. Bald ist er damit beschäftigt, die Partitur für das Musical On the Town zu komponieren, und tauscht weltgewandte Witze mit einer gewissen Felicia Montealegre aus. Doch schon bald nach ihrer ersten Begegnung geraten Leonard und Felicia aneinander. Die erste von vielen Auseinandersetzungen.
„Ich glaube, du könntest mich in zwei Teile brechen“, fasst Felicia ihre Vorahnung in Worte. Im Laufe der – zu Beginn auch sexuell und gegen Ende eher platonisch gelebten – Ehe, versucht Felicia (übrigens großartig gespielt von Carey Mulligan) ihren Ehemann unter Kontrolle zu halten. Maestro versucht höchst engagiert, die bedeutenden Orte und Momente in Bernsteins Leben realistisch wiederaufleben zu lassen, einschließlich der gemeinsamen Wohnung des Ehepaars in Dakota. Großartig illustriert ist auch eine Szene, in der sich Leonard und Felicia im Wohnzimmer streiten, während am Fenster die geschmückten Trucks der „Macy’s Day“-Parade an den Fenstern vorbeiziehen. Ein damals im amerikanischen Fernsehen ausgestrahltes Interview aus dem Jahr 1955, in dem Leonard und Felicia über Musik- und Eheleben Rede und Antwort stehen, wird in Maestro fast Wort für Wort, Aufnahme für Aufnahme, nachgestellt.
Die frühen Phasen ihrer Romanze werden als schwarzweißes Backstage-Melodram aus den 1940er Jahren präsentiert, ein Wirbelsturm aus schnellem Reden, hektischem Tempo und wilden Traumsequenzen. Der Film weicht dabei nicht jedem Klischee eines Hollywood-Biopics aus: Manchmal besteht die Gefahr, vom Name-Dropping überfordert zu werden: „Hallo, Jerome Robbins, ich habe mich gerade mit Aaron Copland über einen Texter namens Stevie Sondheim unterhalten.“ Und so weiter.
Überforderter Promi
Später, wenn Bernstein bereits ein verwöhnter und vom Ruhm bisweilen ungeduldig überforderter Promi ist, wechselt der Film zu einer Farbe, die an die pastellartigen Technicolor-Töne der 1970er Jahre erinnert.
Cooper gibt sich (mitunter allzu) sichtlich Mühe, den großen Komponisten und Dirigenten als komplexe Musiklegende zu spielen. Einige Male wird im Film erwähnt, dass sich der Maestro gerade in Wien befindet, oder von dort zurückgekommen ist. Seine Wien-Besuche und das, was ihn mit dieser Stadt verband, wird jedoch nie gezeigt. Dabei hätten Wien-Szenen sehr gut illustrieren können, wie sich Bernsteins großer Familiensinn, die Liebe zu seiner Mutter und die Beziehung zu den eigenen Kindern äußerte.
Wunzis Vanillekipferln
Zum Beispiel seine jahrzehntelange Freundschaft mit der im Vorjahr verstorbenen, einstigen ORF-Mitarbeiterin Renate Wunderer, die sich selbst ironisch „Wunzi“ nannte – oder wegen ihrer körperlichen Fülle bisweilen auch „Venus von Kilo“. Nach einer von ihm dirigierten Aufführung an der Wiener Staatsoper Anfang der 1970er Jahre wollte Wunzi dem von ihr verehrten Maestro im Hotel Sacher auflauern und ihn um ein Autogramm bitten. Freundlich erfüllte er Wunzis Autogramm-Wunsch. Sie reichte ihm zum Dank ein Papiersäckchen. Bernstein verschwand im Lift, während Wunzi glücklich lächelnd das Autogramm anstaunte. Plötzlich öffnete sich die Lifttür erneut und Bernstein trat heraus. Die Vorderseite seines schwarzen Anzugs (ein Frack?) war weiß, bedeckt von einer hellen Puderschicht, die nach Vanille roch. In der Hand trug er ein zerknülltes Säckchen. „Das ist der Geschmack meiner Kindheit, den ich nie wieder so erlebt habe. Wo haben Sie das her?“, fragte er die völlig perplexe Renate Wunderer.Die wiederum überredete mich, sie stante pede mit dem Auto zu ihrer Mutter zu bringen, um diese zu einer nächtlichen Produktion von Vanillekipferln zu nötigen, die wir wunschgemäß an der Sacher-Rezeption ablieferten. Für Wunzi und Lenny war dies der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Davon zeugen zahlreiche Briefe und Gedichte, die Leonard Bernstein meist in (s)einem ziemlich guten Deutsch an seine Wiener Vanille- und Seelenfreundin schrieb. Eine symbolische Schachtel Vanillekipferl war übrigens auch bei der Ausstellung Leonard Bernstein: Ein New Yorker in Wien zu sehen, die das Jüdische Museum Wien vor fünf Jahren zu dessen 100. Geburtstag organisierte.
Wiens dunkle Seite
Einerseits war Bernstein offensichtlich von der Stadt selbst begeistert: ihrem Orchester, ihrer kulturellen Atmosphäre, ihrer gewissen Gemütlichkeit.. Andererseits war ihm die dunkle Vergangenheit Österreichs nur allzu bewusst. „Ich genieße Wien enorm“, schrieb er 1966 an seine Eltern, „so sehr es ein Jude nur kann.“ Und in einem Brief an seine Eltern bekannte er auch: „Was sie die ‚Bernstein-Welle‘ nennen, die über Wien hinweggefegt ist, hat einige seltsame Ergebnisse hervorgebracht. Plötzlich ist es in Mode, Jude zu sein.“
Vielleicht folgt ja die deutsch-österreichische Version eines Biopics, die einige Wiener Episoden einbezieht. Nachlesen kann man diese in Büchern wie Renate Wunderers Venus von Kilo und Let’s go to Gustl: Anekdoten über Leonard Bernstein von Michael Horowitz.