Elias Canetti hat seinen Biografen gefunden. Wenn auch nur seinen vorläufigen, sind doch wichtige Teile des Nachlasses immer noch gesperrt. Die umfangreiche Biografie von Sven Hanuschek erschien zum frühestmöglichen Zeitpunkt, denn Canetti verfügte 1994, in seinem Sterbejahr, dass in den ersten zehn Jahren nach seinem Tod keine Biografie erscheinen dürfe.
Von Evelyn Adunka
Hanuschek ist sich bewusst, dass Canetti, der alles kontrollieren wollte und einen früheren biografischen Versuch verhindert hat, sein Buch nicht beeinflussen konnte: „Canetti hat mich nicht gewählt. Er hat einige Anstrengungen unternommen, gar nicht zum Thema einer Biografie gewählt zu werden.“ Hanuschek konnte vor allem auf die seit Sommer 2002 zugänglichen 130 Schachteln des Nachlasses, die zusammen mit Canettis 20.000 Bände umfassender Bibliothek in der Zürcher Zentralbibliothek aufbewahrt werden, zurückgreifen. Weitere 20 Schachteln sind bis Sommer 2024 gesperrt. Daher Hanuscheks Anmerkung: „Elias Canettis Lebensgeschichte enthält weiterhin eine Fülle von Geheimnissen, die mit diesem Buch offen gelassen, zum Teil auch erst als Geheimnisse sichtbar werden.“ Der Autor hat ein sensibles und überzeugendes Buch geschrieben. Er hat an den vielen Lebensorten Canettis – Rustschuk, Manchester, Wien, Zürich, Frankfurt, Berlin, London – recherchiert und konnte auch auf wichtige Dokumente und Korrespondenzen aus dem Besitz Georg Canettis – des Bruders des Schriftstellers – zurückgreifen. Neben einer Interpretation von Canettis Werken hat er auch dessen intellektuelle Freundschaften analysiert, wobei die Passagen über Gershom Scholem am gelungensten sind. Sie erinnern an Canettis Bücher in Fania Scholems Wohnung; sie blieben dort noch bis zu ihrem Tod, während sich die meisten anderen Bücher der Bibliothek Scholems bereits in ihrem neuen Zuhause in der „Scholem Library“ in eigenen Räumen in der Hebräischen National- und Universitätsbibliothek befanden. Canetti war zwar nie in Israel – Scholem versuchte ihn zu einem Besuch zu überreden -, aber er weigerte sich, „solange es keinen Frieden zwischen Juden und Palästinensern gibt.“ Aber mit dem großen israelischen Gelehrten Scholem verband ihn eine intensive Beziehung. Canetti warf Scholem die „Verblendung“ vor, „mit der er alles liest, was sich auf die Haltung von Menschen zu ihrem Judentum bezieht“. Scholem dagegen respektierte Canetti auch wegen seines Großonkels, „der eine sechsbändige Geschichte der Juden auf dem Balkan geschrieben hat“. Hanuschek verschwieg aber auch nicht Canettis polygame und prägende Beziehungen zu den Frauen seines Lebens – Veza Canetti, die Malerin Marie-Louise von Motesiczky, die aus der berühmten Familie Todesco und Lieben stammt, die Schriftstellerin Friedl Benedikt, die Enkelin Moriz Benedikts, des Herausgebers der „Neuen Freien Presse“, die unter dem Namen Anna Sebastian publizierte, und die Schweizer Restauratorin Hera Buschor, Canettis zweite Frau und die Mutter seiner späten Tochter Johanna – und die aus den teils parallel laufenden Beziehungen entstandenen Verletzungen. Ebenso würdigte er die eigenwillige und willensstarke Persönlichkeit Veza Canettis und ihr spät entdecktes schriftstellerisches Werk. Ihr Geheimnis, das Fehlen ihres Armes, dessen Gründe nicht bekannt sind, wurde vom Ehepaar Canetti bewahrt, niemals angesprochen und schließlich von Ernst Fischer in dessen Erinnerungen nach dem Tod Veza Canettis enthüllt, was den Bruch zwischen Canetti und Fischer zur Folge hatte. Was das Buch aber vor allem so lesenswert macht, ist, dass sich Hanuschek trotz aller Empathie der Schattenseiten von Canettis Charakter bewusst ist: seiner Eitelkeit, seiner Eifersucht und seiner Depressionen, die ihn die Reinschrift des vierten Bandes seiner Autobiografie vernichten ließen. Auch die Motive für die Vernichtung seiner Korrespondenz mit Veza Canetti bleiben im Dunkeln. Hanuscheks Biografie ist bisher in Wien nicht vorgestellt worden. Aber anlässlich seines 10. Todestags wird das Wiener Jüdische Museum Ende Juli eine bereits in Zürich gezeigte Ausstellung über Canetti übernehmen.
Sven Hanuschek: Elias Canetti. Biographie. Hanser Verlag, München 2005, 800 Seiten, Preis 29,90 Euro, ISBN 3-446-20584-5