Der Chronist der jüdischen Zerrissenheit zwischen chassidischen Wurzeln und intellektuellem Stadtleben im beginnenden 20. Jahrhundert blieb viele Jahre unentdeckt.
Von Raphaela Kitzmantel
Robert Musil, Stefan Zweig, Hermann Hesse und Joseph Roth – sie alle zollten einem heute weitgehend unbekannten Dichter höchste Anerkennung: Soma Morgenstern. Seine Werke umfassen „alles Gute gesegneter Kunst“, meinte etwa Stefan Zweig, und Hermann Hesse sah einen Roman Morgensterns als so gelungen an, dass ihn auch „die großen russischen Erzähler und die Lagerlöf nicht besser“ hätten schreiben können. Nach Robert Musil sind Morgensterns Werke gar einem „geistvollen und dem Geiste dienenden neuen Dichter zu verdanken“. Und dennoch machte sich erst seit 1994 ein kleiner Lüneburger Verlag die eigentliche Wiederentdeckung dieses Autors zur Aufgabe. Wer also war Soma Morgenstern? 1890 im damaligen österreichischen Kronland Galizien und Lodomerien geboren, lernt er von klein auf Polnisch und Ukrainisch, im Cheder dann Hebräisch, und zu Hause spricht die Familie Jiddisch. In der Mittelschule folgt der Unterricht in Englisch, Französisch, Griechisch und Latein. Ein wahrer Europäer wird geboren. So ist es auch kein Wunder, dass es Morgenstern nach bestandener Matura zum Studium nach Wien zieht, in das Zentrum der multikulturellen Donaumonarchie. Erst nach dem Ersten Weltkrieg, in dem er als Freiwilliger kämpft, kann er das Jus-Studium beenden, um dann „endlich und ausschließlich wenigstens eine Probezeit das zu tun, was ich zeit meines Lebens zu tun gedachte: schreiben, schreiben, schreiben.“ Nach einigen erfolglosen Versuchen kann er diesen Wunsch als Wiener Kulturkorrespondent der Frankfurter Zeitung schließlich verwirklichen, auch wenn diese Tätigkeit den Dichter auf literarischem Gebiet nicht befriedigt. Die erste Buchveröffentlichung steht ebenfalls unter keinem guten Stern, denn das 1935 bei Erich Reiss veröffentlichte Buch durfte in Nazi-Deutschland „nur an Juden“ verkauft werden und findet nicht den erwünschten Absatz. Robert Musil immerhin bemerkt darüber: „Wenn Sie jetzt sterben, gehören diese hundert Seiten schon zur Weltliteratur.“
Auf die berufliche Enttäuschung folgen dramatische Wendungen in Morgensterns Lebensweg: 1938 Flucht vor den Nazis nach Paris, 1939 Verlust des geliebten Freundes aus Kindertagen, Joseph Roth, zu dessen Entourage Morgenstern im Pariser Exil gezählt hatte. 1940 wird Morgenstern auf der Straße verhaftet und in verschiedenen französischen Lagern interniert. 1941 kann er sich nach New York retten, wo er 1976 weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit stirbt.
Ingolf Schulte, der Herausgeber der Morgenstern-Gesamtausgabe, der zufällig auf den Feuilletonisten Morgenstern in der Frankfurter Zeitung der Zwischenkriegszeit stieß, verschrieb der Aufarbeitung von Morgensterns Nachlass, der Zusammenstellung der teilweise bruchstückhaften Werke und ihrer peniblen Edierung mehrere Jahre. Nun liegen elf Bände Morgensterns vor. Das Hauptwerk, die Romantrilogie „Funken im Abgrund“, handelt vom inneren Konflikt des im Westen assimilierten Juden, der in die galizische Heimat seines Vaters zurückkehrt. Morgensterns Biografien über seine Freunde Joseph Roth und Alban Berg gehören zu den aufschlussreichsten und amüsantesten Quellen zu diesen beiden herausragenden Persönlichkeiten. Seine Feuilletons geben Aufschluss über das blühende Wiener Kulturleben der Zwischenkriegszeit aus der Sicht eines „Insiders“. Und die „Blutsäule“ über die jüdische Katastrophe des 20. Jahrhunderts beendet die jahrelange Schreibblockade, die ihn nach der Shoah und dem Verlust vieler naher Verwandter befallen hatte. Das alles macht Morgenstern zu einem Autor, „der seinen Platz in der unmittelbaren Gefolgschaft von Joseph Roth wird beanspruchen dürfen“ (Wendelin Schmidt- Dengler) und sein Werk zu einem unverzichtbaren Beitrag zur österreichisch- jüdischen Kulturgeschichte.
Literatur:
Werkausgabe Soma Morgenstern in 11 Bänden Verlag zu Klampen, Lüneburg 1994-2001 Raphaela Kitzmantel: Eine Überfülle an Gegenwart, Biografie Czernin Verlag, Wien 2005