Das jüdische East End Londons ist vergangen – der Antisemitismus ist geblieben.
Von Axel Reiserer, London
Vom jüdischen East End Londons gibt es nur mehr Spuren. Von einst 150 Synagogen sind ganze vier aktive übrig geblieben, die meisten sind heute Moscheen, von deren Minaretten der Muezzin die Gläubigen zum Gebet ruft. 100.000 Juden lebten früher in dem legendenumwobenen Stadtteil, der sich vom östlichen Rand der reichen Londoner City bis an die Themse im Süden und den bettelarmen Bezirk Hackney im Norden erstreckt. Heute sind es nur mehr einige wenige. Die meisten jüdischen Einwanderer flüchteten Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor antisemitischen Pogromen aus ihren osteuropäischen Heimatstaaten nach London. Im East End konnten sie sich niederlassen. Der Bezirk hatte schon damals eine lange Tradition als erstes Auffanggebiet für Flüchtlinge. Hugenotten, Deutsche, Iren waren vor den osteuropäischen Juden hier, „im Herzen der Finsternis“ (Jack London), untergekommen. Im East End waren seit je all jene Betriebe untergebracht, die in den feineren Gegenden der Stadt unerwünscht waren, von Schlachthäusern bis zu Gerbereien. Wichtigster Arbeitgeber aber waren bis Anfang des 20. Jahrhunderts die Docks, wo beim Kampf um Arbeit bei der Entladung der großen Frachtschiffe Zustände herrschten, wie sie Charles Dickens beschrieb. Die Lebensbedingungen waren elend und änderten sich seit der Zeit der Vertreibung der Hugenotten nach der Bartholomäusnacht 1572 bis zur Ankunft der osteuropäischen Juden 300 Jahre später kaum. „Ich fand viele Bewohner in solcher Armut, dass man es sich nicht vorstellen kann, wenn man es nicht gesehen hat“, berichtete John Wesley, der Begründer der Heilsarmee, im Jahr 1777 von einem Besuch im East End. Nie gab es genug Arbeit für den nicht versiegenden Strom neuer Zuwanderer. Ein schrecklicher Überlebenskampf zog tiefe Furchen durch das East End. Als Juden in großer Zahl ins East End kamen, war das Gebiet gezeichnet von Armut, Kriminalität, Prostitution und Verfall in jeglicher Hinsicht. Hier beging Jack the Ripper seine Morde; hier wurde der Elephant Man (berühmt durch das gleichnamige Theaterstück und den Film mit William Hurt in der Hauptrolle) dem Mob zur Ergötzung vorgeführt. Hier kam es aber auch zur ersten Begegnung zwischen Stalin und Trotzki, die beide 1907 in der Fieldgate Street dem 5. Kongress der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (der Vorläuferpartei der Bolschewiki) als Delegierte beiwohnten, einem Parteitag, bei dem der Legende nach mehr zaristische Agenten und britische Gegenagenten anwesend waren als tatsächliche Parteimitglieder. Und hier planten in den 1930er Jahren britische Faschisten den gewaltsamen Aufstand und wurden von Linken und Juden gemeinsam zurückdrängt, wovon sie sich nie mehr erholen sollten. Aufgrund der verheerenden sozialen Lage im East End fiel vorwiegend das Gedankengut des Sozialismus auf fruchtbaren Boden. Immer wieder kam es zu gewaltsamen Ausschreitungen der verarmten Massen gegen ihre Unterdrücker. 1892 wurde mit dem Schotten Keir Hardie der erste Labour-Abgeordnete der Geschichte ins britische Unterhaus gewählt. Im heurigen Mai schaffte ein anderer Schotte ebenfalls ein historisches Wahlergebnis: George Galloway, 2003 wegen seiner Haltung zum Irak-Krieg aus der Labour Party ausgeschlossen, jagte der Regierungspartei einen bisher als praktisch uneinnehmbar betrachteten Parlamentssitz ab. Seine Kampagne hatte Galloway fast ausschließlich auf den Ärger der britischen Moslems über den Krieg gegen den Irak und verschiedene Begleiterscheinungen abgestellt. Heute nämlich stellen Einwanderer aus Bangladesch und Pakistan die Mehrheit im East End und prägen den Stadtteil nach ihrem Bild. Im niemals stillstehenden Menschenkarussell Londons sind die osteuropäischen Juden, sobald sie es sich leisten konnten, längst weitergezogen. Heute leben die Nachfahren der einst bettelarmen osteuropäischen Einwanderer fast alle im Norden Londons. Der permanente Personentransfer (und die Hoffnung, dabei weiter oben zu landen als man begonnen hat) ist eines der bedeutendsten Merkmale Londons und zugleich einer der Gründe, warum die Metropole weltweit ungebrochene Anziehungskraft hat. Jene Bangladeschi, die heute in der berühmten Brick Lane ihre omnipräsenten Curry-Häuser betreiben, schicken ihre Kinder bereits auf teure englische Privatschulen, auf das sie dereinst einen Beruf ergreifen, mit dessen Bezahlung und Prestige sie sich in „besseren Gegenden“ niederlassen können. Und hinter ihnen stehen bereits die nächsten Einwanderer. Obwohl im heutigen East End kaum mehr Juden leben, spielten sie im vergangenen Wahlkampf hier eine prominente Rolle. Galloway ließ in seinen feurigen Reden vor einem überwiegend moslemischen Publikum keine Gelegenheit aus, dem Staat Israel glatt jede Existenzberechtigung abzusprechen und Israel (gemeinsam mit George Bush und Tony Blair) für (praktisch) alle Krisen im Nahen Osten seit der Landung der Arche Noah verantwortlich zu machen. Mit der Frage konfrontiert, ob er nicht bewusst mit den antisemitischen Gefühlen seiner Zuhörer spiele, entgegnete Galloway im Gespräch mit NU: „Da spricht Ihr deutsch-österreichisches kollektives schlechtes historisches Gewissen aus Ihnen. Ja, wir lehnen den Staat Israel als imperialistischen Vorposten im Nahen Osten ab. Das hat nichts mit den Juden zu tun. Wir sind antizionistisch, nicht antisemitisch. Wir wollen ein gemeinsames, demokratisches, freies Palästina für alle.“ Sein Publikum sah das freilich keineswegs so differenziert. Als die Labour-Kandidatin Oona Kind, eine Jüdin und Befürworterin des Irak-Kriegs, im April an einer privaten Gedenkfeier für Opfer des Zweiten Weltkriegs im East End teilnahm, wurde sie von einer Gruppe moslemischer Jugendlicher gewaltsam attackiert und antisemitisch beschimpft. Im Publikum Galloways fanden sich zudem keineswegs nur durch Zorn und Enttäuschung über die mutmaßliche Diskriminierung und Demütigung der Moslems durch Irak-Krieg, Anti-Terror-Gesetze etc. fanatisierte Glaubensanhänger. Ian, ein 52-jähriger Gemeindebeamter, will erst gar nicht sprechen. Dann erklärt er, dass er und seine Familie ihr Leben lang Labour gewählt hätten. Damit sei es aber nun vorbei. Warum? Ian spricht über den Krieg, Sozialabbau, verfallene Wohn- und Infrastruktur im East End und – schließlich: „Es ist Zeit, dass wir der jüdischen Herrschaft über alles ein Ende bereiten.“ Am Buchstand, den der „Socialist Bookshop“ am Eingang der Halle aufgebaut hat, könnte Ian „ideologisches“ Unterfutter für seine Aussage finden. Eine beachtliche Anzahl der feilgebotenen Werke handelt davon, das Existenzrecht des Staates Israel zu bestreiten und/oder Theorien über jüdische Weltverschwörungen darzulegen. Unter sehr vielen Menschen im East End fanden Galloway und seine Mitstreiter, deren Partei sich ausgerechnet „Respect“ nennt, damit im vergangenen Wahlkampf breite Zustimmung. Vom Friseur bis zum Taxilenker ernteten sie ein wohlwollendes „Endlich einer, der sich traut“-Nicken. Die Behauptung „Wir sind antizionistisch, nicht antisemitisch“ ist zum „Man wird doch noch sagen dürfen „ unserer Tage geworden. Das Londoner East End aber wird auch einen Parlamentsabgeordneten Galloway überstehen. Immer noch gehört der Bezirk zu den ärmsten der Stadt. Verkommende Gemeindebauten, verfallene Fabriksgelände, verrottete Straßen prägen in weiten Teilen das Bild. Doch zugleich drängt das Geld der benachbarten City unaufhaltsam in die Region. Immer mehr Menschen mit hohem Einkommen, die aufgrund des miserablen innerstädtischen Verkehrs in der Nähe ihres Arbeitsplatzes wohnen wollen, lassen sich hier nieder. Ein Rayon nach dem anderen blüht auf. Alte Fabriken werden zu fantastischen Wohnhausanlagen umgestaltet, Galerien, Restaurants, Bars breiten sich aus. Am Hoxton Square, wo man sich vor 15 Jahren als Fremder nicht ohne Schutz hinwagen konnte, residiert heute Jamie Oliver. Auf einen Tisch wartet man 12 bis 18 Monate. Auch das jüdische Leben im East End besteht weiter. „Wir sind immer noch eine lebendige Gemeinde“, sagte Mark Howard von der Synagoge in der Sandy´s Row unmittelbar an der Grenze zur City. „Wenn unsere Hauptaufgabe auch die Betreuung der Alten und Kranken geworden ist, so finden wir doch immer wieder Menschen, die neu zu uns stoßen.“ Nicht weit von der Synagoge, in Brick Lane, befindet sich eine Institution des Londoner jüdischen Lebens, die heute so aktiv und lebendig ist wie zu jener Zeit, als das East End noch jüdisch war: „Beigel Bake“ ist die älteste und beste Londoner Bagel-Bäckerei und hat 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag geöffnet. Und wer dort nach langem, langem Anstellen (Art. 1 des ungeschriebenen britischen Grundgesetzes: In der Schlange sind alle Menschen gleich, ungeachtet Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder politischer Überzeugung) schließlich ein Salt Beef Beigel (mit reichlich English Mustard) verzehren darf, versteht, dass das jüdische London bleiben wird.