Die Nazis verstaatlichten die Vermögen der Juden Europas. Sie profitierten von unterjochten Völkern und den Leistungen der Zwangsarbeiter, um Raubkriege und Aufrüstung zu finanzieren. Das Volk wurde mit niedrigen Steuern und gefälliger Sozialgesetzgebung bei Laune gehalten. In seinem Buch „Hitlers Volksstaat – Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus“ dokumentiert Götz Aly den Massenraubmord.
Von Michael Kerbler
Der amerikanische Soziologe und Politologe Daniel Goldhagen sorgte im Jahr 1996 mit seinem Buch „Hitlers willige Vollstrecker“, in dem er die Ursachen für den Holocaust untersuchte, für heftige Debatten. Goldhagen bringt seine Kernthese auf die Kurzformel „No Germans, no Holocaust“ – ohne die Deutschen wäre die Vernichtung des europäischen Judentums nicht möglich gewesen. Vom „willigen Vollstrecker“ zum „zufriedenen Räuber“ Für Goldhagen ist das kennzeichnende Merkmal des Nationalsozialismus der Holocaust. Die Triebkräfte, Jüdinnen und Juden bereitwillig zu töten, wurzelten in den antisemitischen Auffassungen der Deutschen, ist sich Goldhagen sicher. Er kommt zu dem Schluss, dass die deutsche Gesellschaft über die Massenmorde gut informiert war. Außerdem habe, so Goldhagen, die Behandlung der Jüdinnen und Juden allen rationalen und ökonomischen Motiven widersprochen. Genau an diesem Punkt – bei den ökonomischen Motiven – hakt der deutsche Historiker Götz Aly mit seinem neuen Buch „Hitlers Volksstaat“ ein. Aly hält der Goldhagen-These von den willigen Vollstreckern sein Bild von den zufriedenen Räubern entgegen. Der deutsche Historiker zwingt zu einer anderen Sichtweise auf die Bevölkerung in Nazideutschland und darauf, wie es Adolf Hitlers Machtapparat gelungen ist, die Massen für Reich und Führer einzunehmen. Schon im Titel und im Untertitel weist Götz Aly in Richtung seiner These. „Hitlers Volksstaat – Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus“ nennt er seine akribisch recherchierte Dokumentation, die nahezu 450 Seiten umfasst. Symbiose zwischen Volksstaat und NS-Verbrechen Götz Aly hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Symbiose zwischen Volksstaat und NS-Verbrechen sichtbar zu machen. In dieser Symbiose sieht er einen ganz wesentlichen Aspekt der Nibelungentreue der Bevölkerung im „Dritten Reich“. Nicht der Antisemitismus allein war Triebkraft für Judenverfolgung und Holocaust. Nicht das Charisma des Führers. Nicht der allgegenwärtige Terror. Das Regime erkaufte sich vielmehr seinen innenpolitischen Rückhalt mit einer Mischung aus milder Steuerpolitik, guter Versorgung und punktuellem Terror, so Aly. Voraussetzung dafür war die Ausplünderung Europas, aber nicht nur zum Vorteil des deutschen Großkapitals, sondern auch zum Nutzen von Millionen einfacher Deutscher und Österreicher. Die NSDAP propagierte eine sozial- und nationalrevolutionäre Utopie des vergangenen Jahrhunderts. Daraus bezog sie zweierlei: ihre Popularität und ihre verbrecherischen Energien. Der S. Fischer-Verlag verknappt den Gehalt des Sachbuchs auf einen kurzen und zugleich plakativen Satz: „Wie gut es ’Otto Normalverbraucher’ in Nazi-Deutschland hatte!“ Nicht nur der „Raubkrieg“ Hitlers, sondern auch die Judenvernichtung betrachtet und bewertet Götz Aly aufgrund der Akten des damaligen Reichsfinanzministeriums unter einem ökonomischen Aspekt. Etwa die so genannte „Judenbuße“, die im Jahr 1938 verfügt wurde. Götz Aly verweist auf die katastrophale Finanzlage des Staates, die übrigens Grund dafür war, dass die Budgetdaten nicht mehr veröffentlicht wurden. „Die so genannte Judenbuße nach dem Pogrom von 1938 im Ausmaß von einer Milliarde Reichsmark – das waren 6,5 Prozent der jährlichen Haushaltseinnahmen – ist den deutschen und österreichischen Juden abgepresst worden, als in der Reichskasse das Bargeld fehlte, um die Rechnungen des nächsten Morgens zu bezahlen. Der Reichsfinanzminister ist zu den privaten Banken gegangen und hat gesagt, diese Milliarde Reichsmark bekomme ich im Lauf des nächsten Jahres, das Gesetz ist bereits fertig formuliert. Bitte finanziert mir diese Milliarde vor.“ Die „Verstaatlichung“ jüdischen Vermögens „Man muss eigentlich“, argumentiert der deutsche Historiker, „von der Verstaatlichung des Judeneigentums sprechen, die im Jahr 1938 stattgefunden hat. Natürlich bringt der so genannte Anschluss Österreichs einen starken Push in die ganze Angelegenheit. Denn die Wiener Erfahrung, die Experimente, wie man die Juden dort rasch und effizient enteignen kann, und wie man sie dazu bringt, möglichst ohne Mittel das Land zu verlassen, radikalisiert die deutsche Politik. Wie übrigens jeder Expansionsschritt später die antijüdische Politik, aber auch die Politik insgesamt radikalisiert. In dieser Phase – genau im April 1938 – beschließt Hermann Göring mittels Vierjahresplan, dass das Vermögen der Juden in deutsche Zwangsanleihen, also in Kriegsanleihen, umzuwandeln ist. Warum? Weil der Kreditrahmen erschöpft war, aber auch weil diejenigen im Dritten Reich, die über Kapital verfügten, nicht bereit waren, ihr Geld in diese Reichsschatzscheine zu investieren. Das Vertrauen der Bourgeoisie in dieses Regime war geschwunden. In dieser Situation müssen die Juden ihr Vermögen offen legen und melden, das sind nicht weniger als sieben Milliarden Reichsmark – das entspricht heute einem Betrag von 70 bis 80 Milliarden Euro – und dieses Vermögen muss in Reichsanleihen angelegt werden. Die Juden, die dazu gezwungen werden, dürfen von den Zinserträgen, die diese Finanzanlage erbringt, leben. Was aber geschieht im Krieg, was geschieht im Deportationsfall, was, wenn Juden die Flucht gelingt? Im November 1941 kommt die elfte Verordnung zum Reichsbürgergesetz heraus, die nichts anderes ist als eine Enteignungsverordnung. Darin heißt es: Wer außer Landes geht – und das bedeutet auch, wer deportiert wird, wer in die Vernichtungslager verbracht wird -, dessen Vermögen verfällt an das Deutsche Reich.“ Neue Debatte um Kollektivschuld? Dem NS-Staat gelang es, die Zustimmung breiter Bevölkerungskreise zu gewinnen, indem er geraubte Vermögen in Form von Urlaub, Rentenversicherung, Ehegattensplitting, der Einführung des Kilometergeldes, den Pfändungsschutz für Armeeangehörige, dem Delogierungsschutz, etc. umverteilte. Nicht zu vergessen: Bis zum Zusammenbruch der „Gefälligkeitsdiktatur“ – wie Götz Aly Hitlers Volksstaat bezeichnet – wurden die Steuern und Abgaben für den größten Teil der Bevölkerung nicht erhöht. Wenn, wie Aly durchgängig argumentiert und dies auch detailreich belegt, das Bündel aus sozialen Wohltaten die Loyalität der Bürger des „Dritten Reiches“ erkaufte, wenn „Otto Normalverbraucher“ von Raubkrieg und Judenverfolgung profitierte, dann stellt sich sofort die Frage, ob die ad acta gelegte These von der Kollektivschuld nicht erneut überprüft werden muss. Götz Aly übrigens entzieht sich der Beantwortung dieser Frage elegant. Es sei nicht die Aufgabe seiner Arbeit gewesen Individualschuld oder Kollektivschuld zu untersuchen, sondern auf die kontinuierliche sozialpolitische Bestechung und die vielen Vorteile für Millionen Deutsche (und Österreicher) hinzuweisen. Es ist ein provokantes Buch, dessen Autor verlangt, sich eine andere Perspektive auf die organisierte Massenvernichtung der Juden und anderer so genannter Minderwertiger anzueignen. „Der Holocaust“, so Götz Aly, der als Gastprofessor an der Universität Frankfurt lehrt, „bleibt unverstanden, sofern er nicht als der konsequenteste Massenraubmord der modernen Geschichte analysiert wird.“
Zur Person:
Michael Kerbler leitet die Sendereihe „Im Gespräch“ des ORF-Radioprogramms Ö1. Götz Aly: „Hitlers Volksstaat“, Frankfurt/Main 2005, S. Fischer Verlag, ISBN 3-10-000420-5, Preis: 22,90 Euro