Die Künstlerin Andrea Belag stammt aus einer vertriebenen Familie. Nach dem Terror des 11. September, den sie in New York miterlebte, beschloss sie, nach Wien zu kommen und ihren Wurzeln nachzuspüren. Sie hat nur mehr wenig davon gefunden.
Von Peter Menasse
Andrea Belag, Malerin aus New York, hat Wien besucht. Mit alten Fotografien in der Hand fuhr sie in der Stadt herum, nach Hietzing, in die Leopoldstadt, in den Alsergrund. Sie suchte nach Spuren, die ihre Familie vor 1939 hier hinterlassen hatte. Eine der Fotografien zeigt das Wohnhaus der Belags, auf der Rückseite ist eine Adresse in der Auhofstraße vermerkt. Sie fuhr vergeblich in den Nobelbezirk, das Haus steht nicht mehr. „Ich war davon sehr berührt“, sagt sie, „die Villa schaut auf dem Foto so aus, als wäre sie für die Ewigkeit gebaut. Aber ich weiß auch gar nicht, was ich hätte tun sollen, wenn sie noch existiert hätte.“ Andrea Belag hat sich spät, erst als 52-Jährige, auf die Suche nach der alten Heimat ihrer Vorfahren gemacht. „Es hat alles mit dem Tod meiner Familie begonnen“, antwortet sie auf die Frage nach dem Warum. „Wenn die Menschen nicht mehr da sind, muss man beginnen, die Erinnerungen an sie zu verlebendigen. Damit die Geschichte nicht mit ihnen stirbt. Als 1985 mein Vater starb, wenig später seine Eltern, erbte ich ihre Papiere und Dokumente aus dem Wien der Zeit vor den Nazis. Während ich sie durchsah, entstand in mir das Bedürfnis, eine Verbindung zu schaffen.“ Die Belags waren nach dem Ersten Weltkrieg aus Ungarn nach Wien gekommen. Ihr klassisch ungarisch-jüdischer Name Bellak wurde vom österreichischen Einwanderungsbeamten kurzerhand geändert – ein Schicksal, das die Familie mit vielen anderen Einwanderern teilte. Andrea, die nicht deutsch spricht, reagiert erheitert gelassen, wenn man ihr sagt, dass dieser Name etwas mit der Wurst auf dem Brot zu tun hat: „I know“, sagt sie, „they call me sandwich.“
Andreas Großeltern Armin und Gisela Belag hatten in Wien erfolgreich einen Textilwarenhandel aufgebaut und waren so zu Wohlstand gekommen. Mit der Machtübernahme der Nazis brach die Welt der Familie zusammen. Der Großvater wurde von der Gestapo mit der Beschuldigung verhaftet, er hätte einem jüdischen Freund dabei geholfen, Vermögen ins Ausland zu bringen. Er wurde gefoltert und gedemütigt. Andrea meint, dass es ihrer Großmutter, die eine bemerkenswert starke Frau gewesen sei, gelungen wäre, ihren Mann mit Hilfe eines Anwalts aus dem Gefängnis zu bekommen.
Armin, Gisela und der damals 14-jährige Sohn Julius, Andrea Belags Vater, flüchteten nach New York, wo sie mit 25 Dollar in der Tasche ankamen. Der Stolz, eine neue Existenz aufgebaut zu haben, und die Selbstverständlichkeit des jüdischen Lebens in dieser Stadt waren wohl die wesentlichen Gründe, warum in der Familie später kaum mehr über die Vergangenheit gesprochen wurde. Andrea erzählt, dass sie zwar immer gewusst hätte, zu einer Einwandererfamilie zu gehören, die unter der Naziherrschaft gelitten hatte, dass aber niemand habe zurückblicken wollen.
Dann aber kam der 11. September 2001. Andrea Belag wohnt nur sechs Häuserblöcke vom Ort des terroristischen Anschlags entfernt. Als sie im Fernsehen die Bilder vom ersten Flugzeug sieht, geht sie auf die Straße, um nachzuschauen. Sie erlebt mit, wie der zweite Turm getroffen wird, wie Menschen aus den Hochhäusern in den Tod springen. Es fällt ihr noch heute schwer darüber zu reden: „Es war schrecklich, ich geriet in einen traumatischen Zustand. Ich musste meine Wohnung verlassen. Und diese Erfahrung, eine Woche lang kein Heim zu haben, ziellos auf den Straßen herumzuwandern, ließ mich noch mehr in einem desorientierten Zustand zurück. Dann musste ich über Wochen ohne die gewohnte Infrastruktur leben, ohne Telefon, ohne Heizung in einer gefährdeten Umgebung. Am Ort des Terrors stieg drei Monate hindurch Rauch auf von einem Feuer, das immer noch brannte. Der Geruch lag ständig in der Luft. All das war zermürbend, und es gab die Angst vor weiteren Anschlägen. Überall in den Straßen standen bewaffnete Truppen, es war ein Zustand wie in einem Krieg. Es brachte mich näher zu den Menschen, die in anderen Ländern ständig in einer solchen Situation leben müssen.“ Andrea Belag war mit einem Schlag, mit einem Anschlag des Terrors, in einer anderen Wirklichkeit gelandet: „Als ich aus meinem Haus evakuiert wurde und wegging von den Türmen, dem Rauch und der Gefahr, dachte ich sehr intensiv an das, was meine Familie durchmachte, als sie aus Wien flüchten musste. Ich dachte in diesem Moment darüber nach, wie es gewesen wäre, wenn sie diese Ereignisse erlebt hätten, eine Wiederholung von all dem, was sie hatten durchmachen müssen. Das war dann auch endgültig der Moment, in dem ich beschloss, nach Wien zu reisen.“
Jetzt sitzt sie da mit den Zeugnissen eines versunkenen Wien, mit Fotos eines vor langer Zeit abgerissenen Wohnhauses, eines Automobils, einer Fabrik. Vieles war nicht mehr aufzuspüren, anderes aber erweckte teils schmerzliche, teils sentimentale Erinnerungen an die Vorfahren. Sie fand als nüchterne Bestätigung der Geschichte den Namen ihrer Verwandten in einem Telefonbuch aus dem Jahr 1938. Und sie hat in den Auslagen der Stadt Gegenstände gesehen, die ihre Familie auch noch in der New Yorker Zeit liebte und die für sie ihre österreichischen Wurzeln repräsentierten: Vasen aus böhmischem Glas und Geschirr aus Augarten-Porzellan.
Bei ihrem Abschied von Wien im nebeligen Oktober 2004 kann sie noch nicht genau abschätzen, was dieser Besuch für sie bedeutet hat. Es sei dies eine schwierige Stadt, keine, in der man einfachen Zugang zu den Menschen fände. Es gäbe viele gesellschaftliche Konventionen, die ihr fremd seien. Aber sie würde gerne zurückkommen und ihre Bilder zeigen. Immer schon hat ihre Arbeit mit Orten zu tun gehabt: Sie fotografiert diese Orte und malt sie dann. Sie setzt starke Farbstreifen, die sich zu Rechtecken verbinden, wie Fenster, hinter denen wir eine Welt erahnen können. Sie malt in einem Stil, den wir mit den reduzierten Möglichkeiten der Sprache „abstrakt“ nennen. Aber wir werden diese Stadt ganz konkret erkennen, wenn Andrea Belag sie für uns in Bilder gesetzt haben wird. „Wien“, sagt sie zum Abschied, „ist ein wichtiger Ort auf meiner emotionalen Landkarte. Und ich habe Werke hier geschaffen, das ist ein sehr intimer Vorgang, der mich tief verwurzelt.“
INFO
Andrea Belag
Geboren und wohnhaft in New York. Studierte an der Boston University, am Bard College und an der New York Studio School. Fakultätsmitglied der School of Visual Arts, New York, seit 1995. Ausgewählte Bibliographie: Cyphers, Peggy. „Andrea Belag/Brigitte Engler“, Arts, April 1991 Ebony, David. „Andrea Belag at Richard Anderson“, Art in America, November 1993 Edelman, Robert. „Andrea Belag“, Artpress, September 1994 Johnson, Ken. „Art in Review“, The New York Times, Friday, October 2, 1998 Mendelsohn, John. „The Abstract Lilith“, The Jewish Week, August 29, 1997 Morgan, Robert. „Andrea Belag“, LAPIZ, May/June 1992 Pardee, Hearne. „Andrea Belag at Richard Anderson“, ARTnews, September 1992 Schmerler, Sarah. „Andrea Belag at Bill Maynes“, Art in America, June 2001 Schwabsky, Barry. „Andrea Belag“, Artforum, September 1994 Westfall, Stephen. „Andrea Belag at Bill Maynes“, Art in America, December 1998 White, Kit. „Andrea Belag“, ARTnews, February 2001 Yau, John. „Longing and Unbridgeable Distance“ from Andrea Belag: New York – Köln, 1998, Weidle Verlag, publisher Zimmer, William. „The Enduring Nature of Art and Headlines“, The New York Times, October 27, 2002 Einzelausstellungen: Bill Maynes Gallery, New York 2003, 2002, 2000, 1998 Galerie Heinz Holtmann, Köln 2002, 2000, 1998 Richard Anderson Fine Arts, New York 1994, 1993, 1992 Auszeichnungen: Rockefeller Foundation Residency at the Bellagio Study Center, Italy, 2003 John Simon Guggenheim Fellowship, 1999 National Endowment for the Arts, Individual Fellowship, 1987 New Jersey Council for the Arts, Individual Fellowship, 1984