Pythagoräer und Kabbalisten, Albrecht Dürer oder Bundeskanzler – sie alle bedienten sich der Magie der Zahlen. Denn Zahlen vermitteln die Illusion endgültiger Präzision und die kaltschnäuzige Rückführung auf das bloß Quantitative gleichermaßen.
Von Rudolf Taschner
Unsere Zahlen liegen auf dem Tisch, nennen Sie die Ihren!“ Vor der einzigen bundesweiten Wahl, die er als Bundeskanzler — nomina sunt odiosa — gewann, warf er bei der „Elefantenrunde“ im Fernsehen diesen Satz in die Diskussion. Er selbst aber nannte einzig und allein vier Zahlen, und zwar ganz zu Beginn: Es sei ein Budgetloch von 50 Milliarden zu stopfen, und hierfür gäbe es drei Quellen, die jeweils 25 Milliarden, 10 Milliarden und 15 Milliarden erbrächten. Die einfache Rechnung 25 + 10 + 15 = 50 war das Einzige, was in dieser Wortmeldung den Zusehern zugemutet wurde. Danach enthielt er sich wohlweislich aller Zahlenspielereien, reizte aber seine Gegner, mit möglichst vielen Zahlen zu protzen.
Und die fielen prompt darauf herein.
Fast 200 Zahlen prasselten auf das Publikum nieder, im Schnitt wurde öfter als jede halbe Minute eine Zahl genannt — Jahreszahlen nicht mitgerechnet. Diese Fülle von Zahlen, welche vom gigantischen Monster 1 600 000 000 000 bis zum mickrigen Wert 1/4 kunterbunt aufeinander folgten, kann selbst der Aufmerksamste beim besten Willen nicht verkraften. Sie dienen nicht, wie man vordergründig annehmen sollte, der Information, sondern vielmehr der Verschleierung: Ist doch das gegenseitige Zurufen von Millionen- und Milliardenbeträgen bestenfalls mit dem Radschlagen balzender Pfaue zu vergleichen und hat kaum etwas mit sachlich fundierter Auseinandersetzung gemeinsam. Zahlen imponieren, faszinieren und schrecken gleichzeitig ab. Mit der Ambivalenz zwischen Bewunderung und Berührungsangst spielen zu können, zeichnet den erfolgreichen Wahlkämpfer aus.
Woher kommt das zwiespältige Verhältnis der meisten Menschen zu Zahlen?
Der wesentliche Grund besteht wohl darin, dass Zahlen einerseits die Illusion endgültiger Präzision vermitteln, andererseits die kaltschnäuzige Rückführung auf das bloß Quantitative spüren lassen. Und das Zählen selbst kennt keinen Halt: Je größer Zahlen geraten, umso mehr entschwinden sie unserer Vorstellungskraft — die Grenze zwischen der noch überschaubaren Quantität und dem überwältigenden Zahlengiganten ist fließend.
Das in den Zahlen steckende Numinose begleitete sie von Beginn an — bei den Pythagoräern, den Begründern der wissenschaftlichen Mathematik, in einer heute kaum mehr nachvollziehbaren Zahlenmystik: „Eins — der Punkt, zwei — die Linie, drei — die Fläche, vier — der Raum: Damit“, so der pythagoräische Meister zu seinem Schüler, „hast du die Welt verstanden.“ Zehn bezeichnet die Panteleia, das Vollkommene schlechthin, vielleicht deshalb, weil zehn die vierte „Dreieckszahl“ ist. 220 und 284 sind „Zahlen befreundeter Seelen“ — skurrile Eigenschaften ihrer Teiler ließen Pythagoras dies behaupten.
Die Entdeckung der Zahlen selbst ist im Dunkel des Anfangs der Geschichte verborgen. Zu Beginn waren Zahlen wohl untrennbar mit den zu zählenden Objekten verbunden: in frühmesopotamischer Zeit wurden vier Scheffel Weizen und vier tote Rinder mit verschiedenen Wörtern für „vier“ benannt. Bis in unsere Tage sind Relikte dieses Vorverständnisses für Zahlen erhalten geblieben: Eine Kundin kauft zum Beispiel ein Paar Schuhe, nachdem sie zwei Schuhe probiert hat — wir unterscheiden in der Sprache sehr präzise zwischen dem Wort „Paar“, das eine Zweiheit vor dem Zählen bezeichnet, und der Zahl zwei. Doch bereits im 9. vorchristlichen Jahrhundert schien sich im Zweistromland die Idee der Zahl — unabhängig vom zu zählenden Objekt — zu entwickeln: Wenn damals ein Händler mit Waren, zum Beispiel mit fünf Kühen und sieben Schafen, auf die Reise geschickt wurde, führte er eine Schachtel mit sich, in die fünf Kugeln und sieben Scheiben eingeschlossen waren. Um ganz sicherzugehen, wurden manchmal die in der Schachtel enthaltenen Körper auf der Außenseite aufgezeichnet — so deuten wir heute die archäologischen Funde aus dieser Zeit. Schließlich kam man auf die Idee, dass allein die Zeichnungen als Information genügen: ein erster Schritt auf dem Weg zur Schrift. Tatsächlich ähneln die frühen sumerischen Zahl- und Schriftzeichen diesen Figuren. Zählen zu können scheint somit unentwirrbar mit den Fertigkeiten des Sprechens, Schreibens und Lesens verwoben.
Dieser Zusammenhang von Zahl und Schrift verdeutlicht sich in der Benennung der Zahlen in frühen Hochkulturen: Zahl- und Schriftsymbole stimmen weitgehend überein. Im Hebräischen sind die ersten neun Buchstaben … nicht bloß Zeichen für Konsonanten, aus denen sich die Sprache zusammensetzt, sondern auch Zeichen für die Ziffern 1, 2, 3, 4 . . .; die restlichen Buchstaben dienen zur Benennung von Zahlen in Zehner- und Hunderterbündeln. Ganz ähnlich schrieben die Griechen der Antike Zahlen als Buchstaben: steht für 1, für 2, für 3, für 4 und so weiter. Die Gleichsetzung von Zahlen und Buchstaben eröffnet ein weites Feld von möglichen Deutungen heiliger Texte. Denn der Autor versucht dem der Zahlenmystik ergebenen Leser in der Komposition der von ihm verwendeten Buchstaben einen tieferen Sinn mitzuteilen, als es die Worte allein vermögen:
Berühmt ist das Beispiel aus dem ersten Buch Mose, wonach Abraham mit 318 Knechten seinem Neffen Lot zu Hilfe eilt. In Wahrheit ist mit den „318 Knechten“ jedoch niemand anderer als der Gefolgsmann Elieser,,des Abraham gemeint, denn es errechnet sich = 1 + 30 + 10 + 70 + 7 + 200 = 318.
Im 28. Kapitel des gleichen Buches sieht Jakob im Traum eine Leiter auf der Erde stehen und mit der Spitze in den Himmel ragen. Diese Leiter, hebräisch sulam, , ist in der Deutung mancher Schriftgelehrter der Sinai, , die Zahlenwerte 130 der beiden Wörter und stimmen nämlich überein — und
diese Interpretation ist auch sinnvoll: Das auf dem Sinai dem Moses geoffenbarte Gesetz ist die Leiter, die von der Erde in den Himmel führt.
Liest man im ersten Buch Mose den berühmten Bericht über die Erschaffung der Welt, stößt man zunächst auf den Satz „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde“, den ersten Satz der Bibel überhaupt, in Hebräisch: . Der numerologisch gebildete Schriftgelehrte bildet von jedem dieser sieben Wörter das so genannte Akrostichon, also die Buchstabenfolge der Anfangsbuchstaben , usw., und berechnet die sich hieraus ergebende Zahl = 2 + 2 + 1 + 1 + 5 + 6 + 5 = 22. Die gleiche Zahl entnimmt der Schriftgelehrte aus dem Schöpfungsbericht auch auf anderen Wegen, die hier genauer zu schildern kein Platz ist. Hinter dem wiederholten Auftreten der Zahl 22 muss sich ein numerologischer Sinn verbergen: Tatsächlich ist 22 die Zahl der Buchstaben des hebräischen Alphabets — und dies führt zu folgender Deutung:
Die Schöpfung ist Sprachvorgang, Existenz bedeutet nicht ein Geworfensein ins Nichts, sondern ein Gesprochensein durch Gott, und die Sprache setzt sich aus den Buchstaben zusammen. Darum findet man im kabbalistischen Sefer Jezira, dem „Buch der Weltformung“, den Satz: „22 Buchstaben: ER zeichnete sie, ER hieb sie aus, ER läuterte sie, ER wog sie und ER wechselte sie, einen jeden mit allen; ER bildete durch sie die ganze Schöpfung und alles, was geschaffen werden sollte.“
Fast zwangsläufig wird man zur Erkenntnis gedrängt: Der Autor des Schöpfungsberichts will nicht nur augenfällig von der Erschaffung des Lichts bis zu der des Menschen berichten, sondern er möchte in der Komposition seines Textes den Kosmos zahlensymbolisch als Entfaltung des Alphabets und zugleich — weil Zahlen und Buchstaben im Hebräischen ein und dasselbe sind — wortreich als Entfaltung der Zahlen ergründen.
Ein wenig prosaischer als der dümmliche „Bibel-Code“, dafür aber eher die Wahrheit jener Motive treffend, nach welchen die jüdischen Gelehrten die Bibel verfassten.
Zahlensymbolik lässt sich nicht nur in den archaischen heiligen Texten finden, auch in Albrecht Dürers Kupferstich „Melencolia I“ oder in den musikalischen Schöpfungen Johann Sebastian Bachs tritt sie zutage. Oft verstehen wir den symbolischen Gehalt nicht mehr: Warum zum Beispiel die vorsintflutlichen Patriarchen so alt wurden, wie es Moses schildert, ist kaum ergründbar. Nur bei Henoch, dem einzigen Gerechten unter ihnen, steht die Zahl seiner 365 Lebensjahre offenkundig mit der Zahl der 365 Tage des Sonnenjahres im Zusammenhang.
Auch die Väter des Volkes Israel erreichten bemerkenswerte Anzahlen von Jahren: Abraham verstarb mit 175 = 7 · 5 · 5 Jahren, sein Sohn Isaak mit 180 = 5 · 6 · 6 Jahren und dessen Sohn Jakob mit 147 =“3″ · 7 · 7 Jahren. Wie soll man diese Zahlen deuten? Und kann man aus den gleichen Summen 7 + 5 + 5 = 5 + 6 + 6 = 3 + 7 + 7 = 17 auf eine geheime Botschaft schließen?
Selbst nüchterne, moderne Gelehrte, wie den Nobelpreisträger Wolfgang Pauli, schlägt die Zahlensymbolik in ihren Bann: Als Pauli, schwer erkrankt, in das Spitalszimmer mit der Nummer 137 gebettet wurde — 137, der Kehrwert der „Feinstrukturkonstanten“, gilt allen Quantenphysikern als eine der fundamentalsten Naturkonstanten —, wusste er intuitiv, dass er dieses Zimmer nie mehr verlassen würde. Was tatsächlich der Fall war.
Dass die Himmel leer sind, erfüllte die Menschheit einst mit heiterem Gelächter,
sagt Brecht in seinem „Galileo Galilei“. Doch in Wahrheit ist das Universum dicht gepackt mit humorlosen Zahlen. Der Kosmos — eine gigantische Rechenmaschine? Eine Idee, schon von Gottfried Wilhelm Leibniz vermutet und jüngst in dem Buch „A New Kind of Science“ von Stephen Wolfram neu formuliert. Allein, dass sich damit „alles“ berechnen ließe, ist seit dem Unvollständigkeitssatz des österreichischen Logikers Kurt Gödel als haltlose Illusion enttarnt.
Stimmiger als das Symbol der Rechenmaschine ist das Bild des Zahlenuniversums, das die Kunst zu vermitteln erlaubt. Roman Opalka zum Beispiel bemüht sich darum, indem er das unentwegte Zählen als künstlerischen Akt verdeutlicht. In einer manisch zu nennenden Obsession notiert er in feinst ziselierter Schrift auf riesigen Bildtafeln der Reihe nach die Zahlen — vor Jahrzehnten begann er mit eins und immer noch schreibt er eine Zahl nach der anderen auf: 4 167 312, 4 167 313, 4 167 314, …; er malt die Ziffern, er spricht das Zahlwort aus, er macht sich die Zahl mit dem Akt des Benennens zu Eigen und schenkt sie damit zugleich dem künftigen Betrachter (s. Abb. S. 11), der — wenn er nicht die Augen ganz nahe ans Gemälde führt — fast gar nichts davon merkt, sondern bloß ein schillerndes Grau in Grau empfindet. Was aber das Wesentlichste ist: Opalka weiß, und wir wissen es mit ihm — sein Projekt muss scheitern. Selbst wenn er Nachfolger seiner kafkaesken Besessenheit fände, selbst wenn sich die gesamte Menschheit daran beteiligte, dieses ununterbrochene Zählen fortzuführen, das Scheitern des Projekts ist unvermeidlich, der Zählvorgang überwältigend.
Die nahtlos aneinander gefügten Zahlen Opalkas, als eine große Botschaft verstanden, teilen uns buchstäblich alles mit. Denn man stelle sich Folgendes vor: Jedes Ziffernpaar 00, 01, 02 oder 03 in Opalkas Zahlenkolonnen liest man als Leerraum, jedes Ziffernpaar 04, 05, 06 oder 07 als Buchstaben, jedes Ziffernpaar 08, 09, 10 oder 11 als Buchstaben , jedes Ziffernpaar 12, 13, 14 oder 15 als Buchstaben , und dies so weiter, bis man jedes Ziffernpaar 88, 89, 90 oder 91 durch den Letter ersetzt und die Ziffernpaare 92, 93, 94 oder 95 sowie die Ziffernpaare 96, 97, 98 oder 99 als Zeichen für Komma beziehungsweise Punkt verwandelt. Wenn man diese Übersetzung von Zahlen- in Buchstabensymbole durchführt — eine bizarre, aber keineswegs komplizierte Rechnung —, dann verwandeln sich Opalkas Bildtafeln zur Bibliothek aller denkbaren Bücher, die Jorge Luis Borges in seiner 1941 erschienenen Erzählung „Die Bibliothek von Babel“ beschreibt: Die Bücher dieser Bibliothek enthalten zumeist unverständliches, sogar unaussprechliches Kokolores, „auf eine einzige verständliche Bemerkung entfallen Meilen sinnloser Kakophonien, sprachlichen Plunders, zusammenhanglosen Zeugs“. Aber, so schreibt Borges weiter, diese Bibliothek ist über alle Maßen riesig, sie ist „das Universum“ und enthält in ihren unauslotbaren Klüften auch alles, was sich irgend ausdrücken lässt: in sämtlichen Sprachen. Alles: die bis ins Einzelne gehende Geschichte der Zukunft, die Autobiographien der Erzengel, den getreuen Katalog der Bibliothek, Tausende und Abertausende falscher Kataloge, den Nachweis ihrer Falschheit, den Nachweis der Falschheit des echten Katalogs, die Thora, die Thora mit genau einem Druckfehler.
Es ist bemerkenswert, dass Borges in der Erzählung ausdrücklich die Lettern der Bücher mit „dem Raum, dem Punkt, dem Komma, den zweiundzwanzig Lettern des Alphabets“ aufbaut und so explizit auf das hebräische Alphabet Bezug nimmt — und, so Borges weiter: „die wahrheitsgetreue Darstellung deines Todes, die Übertragung jeden Buches in sämtliche Sprachen, die Interpolationen jeden Buches in allen Büchern, der Traktat, den Beda hätte schreiben können (und nicht schrieb) über die Mythologie der Sachsen, die verlorenen Bücher des Tacitus …“
Opalka und Borges: Vom Standpunkt der hebräischen Schrift- und Zahlenzeichen aus betrachtet, die ein und dasselbe sind, verkünden beide das Gleiche: Das Universum ist hinter Zahlenkombinationen verborgen.
Und das wohl Geheimnisvollste ist, dass die Zahlen _, _, _ … so „existieren“, wie sie uns im letztlich unvollendbaren Projekt des Zählens vorgegeben sind. Mit all ihren undurchschaubaren Rätseln befrachtet: wie in ihnen die Primzahlen verteilt sind; ob — abgesehen von zwei — jede gerade Zahl Summe von zwei Primzahlen ist; ob es ungerade Zahlen gibt, deren Teilersumme genau ihr Doppeltes beträgt; … und dass diese Existenz den Charakter des Unumstößlichen in sich birgt. Weder die fundamentalsten Elementarteilchen im Mikrokosmos noch die entferntesten Galaxien im Makrokosmos reichen an die Absolutheit der Existenz von Zahlen heran.
Rudolf Taschner, Professor für Mathematik an der Technischen Universität Wien,
betreibt „math.space“, eine Institution des Wiener MuseumsQuartiers, die Mathematik als eminente kulturelle Errungenschaft präsentiert. Sein Buch „Der Zahlen gigantische Schatten“ ist kürzlich im Verlag Vieweg, Wiesbaden, erschienen.