Die Judaistikstudentin Victoria Borochov (22) ist seit November die neue und zugleich erste bucharische Präsidentin der Jüdischen Österreichischen Hochschüler:innen. Ein Gespräch über Zugehörigkeit, junges jüdisches Leben und linken Antisemitismus.
Von Mark E. Napadenski
NU: Wie kam es, dass du in der JöH aktiv wurdest?
Victoria Borochov: Als ich 2019 begann, die Schabbes-Essen zu besuchen, wurde ich zunehmend aktiver bei der Organisation von Veranstaltungen und Demonstrationen. Mir hat der Zusammenhalt sehr viel gegeben, weshalb ich mich entschieden habe, 2020 für den Vorstand zu kandidieren.
Worauf legst du in deiner Präsidentschaft besonderen Wert?
Dass wir für unterschiedliche Zielgruppen innerhalb der Organisation so viel wie möglich anbieten. Ein Herzensprojekt von mir persönlich ist der Noodnik, die Zeitschrift der JöH, die wir vor etwas mehr als einem Jahr revitalisiert haben und die drei- bis viermal im Jahr erscheint. Für mich ist es besonders wichtig, junges jüdisches Leben zueinander zu bringen, um jüdischen Studierenden – aber auch jungen Jüdinnen und Juden, die nicht studieren – einen „Safe Space“ zu bieten. Das ist nicht selbstverständlich! Zentral bleibt leider nach wie vor der Kampf gegen Antisemitismus. Vor allem in den Universitäten und der österreichischen Politik erfordert das einen größeren Teil unserer Tätigkeit als wir uns wünschen würden.
Bist du religiös?
Nein.
Ist das wichtig in der JöH?
Nicht wirklich. Das Schöne an der JöH ist, dass wir offen für religiöse und säkulare Leute sind, die auch sehr unterschiedliche kulturelle Hintergründe haben, zum Beispiel eben bucharisch, georgisch etc. Alle uns Wohlgesinnte sind willkommen, dementsprechend versuchen wir auch, Veranstaltungen für alle unterschiedlichen Gruppen zu planen. Das reicht von Konzertabenden bis zu Demonstrationen und von Schabbat-Essen bis Purim-Partys. Außer den Schabbat-Essen planen wir keine Veranstaltungen, egal wie religiös konnotiert, am Schabbat. Es wird dann auch keine Musik gespielt, um möglichst inklusiv zu sein.
Welche Rolle spielen die ethnischen Unterschiede innerhalb der Gemeinde?
Ich kann von meinen persönlichen Erfahrungen sprechen. Ich bin aus der Bucharischen Gemeinde, und als ich in die JöH gekommen bin, war ich plötzlich umgeben von Aschkenasim. Das war für mich ein kleiner Kulturschock, aber auch schön, die verschiedenen Traditionen kennenzulernen und zu sehen, wie jüdisches Leben anders gelebt werden kann. Ich habe mich als Bucharin sehr wohl hier gefühlt, weil es eine Aufgeschlossenheit füreinander gibt. Ich hatte dadurch ein Zugehörigkeitsgefühl, und ich kenne mehrere Menschen, die das auch so empfunden haben.
Du bist somit die erste Bucharin als Präsidentin und folgst Sashi Turkof als zweite Frau in dieser Position.
Ich bin auch sehr stolz darauf und freue mich, das Amt von einer starken Frau und Kollegin zu übernehmen. Das spricht auch für den Zeitgeist und zeugt von der politischen Einstellung der JöH. Wir sehen uns klar feministisch. Deswegen ist der Vorstand auch immer sehr ausgeglichen. Repräsentative Funktionen werden divers besetzt. Wir schauen auch bei Veranstaltungen darauf, dass es keine Diskriminierung gibt. Frauen müssen sich bei uns an keine religiösen Kleidungsvorschriften halten.
Kommt es da nicht zu Konflikten?
Selten. Wir suchen dann den Dialog, aber es gibt eine klare Grenze und die heißt Diskriminierung. Dann gibt’s die rote Karte, und die Betroffenen müssen die Veranstaltung verlassen. Das ist wegen homophober Beleidigungen schon vorgekommen. Ziel ist es, dass sich alle gut und sicher fühlen können.
Für die JöH ist Aktivismus seit der Gründung sehr wichtig, dadurch ist sie auch medial bekannt geworden. Besonders bei Themen wie Antisemitismus, aber auch bei aktuellen Debatten wie rund um das Lueger-Denkmal, sorgt ihr immer wieder für Schlagzeilen. Wieso ist das Thema Lueger weiterhin so wichtig?
Weil wir seit drei Jahren eine sehr klare Position zu der Sache vertreten und diese auch laut kommunizieren. Wir fordern, dass das Denkmal abgerissen und der Platz umbenannt wird. Bisher gibt es noch kein Entgegenkommen der Stadt Wien. Ich würde mir daher wünschen, dass diesbezüglich mehr auf jüdische Stimmen gehört wird. Zum Beispiel ist der offene Brief von Zeitzeugen und -zeuginnen bis dato unbeantwortet geblieben. Dafür wurde ein sehr teures und buntes Kunstwerk errichtet, das Lueger noch mehr ins Zentrum rückt. Unserer Meinung nach gehört der Antisemitismus thematisiert und nicht bunt dekoriert. Diese Position werden wir auch weiterhin vertreten.
Gibt es nicht relevantere Themen als die Lueger-Debatte?
Eventuell sind wir medial in Sachen Lueger präsenter als mit anderen Themen. Aber eines unserer größten Projekte war die Neuauflage von Noodnik. Hier kann man übrigens auch nachlesen, wie aktiv wir abseits der Lueger-Debatte sind. Die Priorität liegt bei den Jüdischen Studierenden und der Vertretung ihrer Interessen. Dazu gehören Aktivismus und Öffentlichkeit, aber auch geselliges Beisammensein. Eines unserer aktivsten Felder ist der Kampf gegen Antisemitismus, insbesondere gegen den israelbezogenen Antisemitismus, den wir neuerdings leider vor allem in der Linken spüren. Hier wird von einigen Organisationen sehr unreflektiert Antizionismus propagiert, den wir mit sehr viel Arbeit und Kommunikation als israelbezogenen Antisemitismus aufzudecken versuchen.
Welche Erfahrungen habt ihr mit linkem Antisemitismus gemacht?
Grundsätzlich haben wir sehr gute Beziehungen zu ganz vielen Organisationen, auch im linken politischen Spektrum. Es gibt lediglich zwei Parteien der ÖH (Österreichische Hochschülerinnen- und Hochschülerschaft), mit denen wir keine Kontakte pflegen. Das sind der RFS (Ring Freiheitlicher Studenten) und der KSV KJÖ (Kommunistischer Studierendenverband/Kommunistische Jugend Österreich). Der KSV KJÖ plant als dezidiert linke Organisation z.B. regelmäßig Veranstaltungen mit BDS-nahen Organisationen, die wir als klar antisemitisch erachten. Allgemein konnten wir uns in den vergangenen Jahren aber bei linken Gruppierungen sehr gut Gehör verschaffen, um solche Veranstaltungen zu verhindern. Ein anderes Beispiel ist die Akademie der bildenden Künste Wien, die im vergangenen Mai eine BDS-Sympathisantin als Rednerin wieder ausgeladen hat, nachdem wir auf die antisemitischen Inhalte des geplanten Vortrags hingewiesen haben. Institutionen in Österreich vertrauen mittlerweile unserer Expertise und Einschätzung. Das wissen wir zu schätzen.
Und mit der AG (AktionsGemeinschaft), die bekannt wurde, weil Funktionäre widerliche Anne Frank-Memes versendet haben, ist eine Kooperation in Ordnung?
Die AG hat diese Vorfälle aufgearbeitet, keine der beteiligten Personen ist noch dabei. Natürlich achten wir sehr darauf, mit wem wir gemeinsame Veranstaltungen planen. Wir erarbeiten momentan mit Expertinnen und Experten wie Andreas Peham, Isolde Vogel, Doron Rabinovici und Julia Bernstein einen Workshop, der auch über israelbezogenen Antisemitismus im Peer-to-Peer-Format aufklären soll. Das kann sehr hilfreich sein für Organisationen, die eigenen Leute besser aufzuklären und für das Thema zu sensibilisieren.
Stichwort Uni-Politik. Wie steht die JöH eigentlich zur ÖH?
Wir sind keine offizielle Partei an den Universitäten und auch nicht in der Bundesvertretung. Wir arbeiten aber sehr eng und gut mit der ÖH zusammen, insbesondere mit dem Vorsitz der Uni Wien, der momentan vom VSSTÖ (Verband Sozialistischer Student_innen in Österreich) und KSV Lili (Kommunistische Student_innenverband – Linke Liste) besetzt ist. Im Sommer 2022 haben wir auch mit Vertreterinnen und Vertretern der ÖH sowie anderen Aktivistinnen wie z.B. Noomi Anyanwu vom Black Voices-Volksbegehren gemeinsam Israel bereist und uns unterschiedlichen Narrativen angenähert. Das war eine sehr intensive und lehrreiche Reise, die wir kommenden Sommer mit dem neu gewählten ÖH-Team wiederholen möchten.
Wie stehen JöH und IKG zueinander?
Die JöH ist als eigenständiger Verein Teil der JUKO, der Jugendkommission der IKG, und wir sprechen etwa gemeinsame Auftritte bei Gedenkveranstaltungen ab. Ich habe auch die Diskussionsrunde zur IKG-Wahl moderiert.
Welche Auswirkung hat die mediale Darstellung von Jiddischkeit? In der Populärkultur, vor allem in Filmen und Serien, ist das Sujet einer jüdischen Person neuerdings sehr beliebt. Von „Unorthodox“, „Mottis wunderliche Reise in die Arme einer Schickse“ oder zuletzt „Schächten“, um nur ganz wenige zu nennen.
Ein Film, mit dem ich mich identifizieren kann, ist Mazel Tov Cocktail. Da geht es nicht um einen Lachsbagel liebenden Juden in New York oder um in Schwarz-Weiß-Ästhetik verfolgte Juden in Deutschland. Sondern es geht um Dima, den Sohn einer sowjetischen Familie in Deutschland, von der viele von der Schoa verschont geblieben sind. So wie zum Glück meine Familie. Dima widersetzt sich im Film den Stereotypen über Juden auf eindrucksvolle Weise. Aber das will kaum jemand wissen. Wir bekommen ständig Anfragen, als „Token-Jews“ Teil des Gedächtnistheaters zu sein, wie Max Czollek es nennt. Natürlich bin auch ich nicht frei von den Traumata der Verfolgung, doch Judentum ist viel mehr als das. Dennoch habe ich das Gefühl, dass in dieser Hinsicht etwas in Bewegung geraten ist in unserer Generation. Vielleicht finden dann noch mehr solcher „neuen“ Darstellungen ein breiteres Publikum.
Die Landtagswahlen in Niederösterreich haben für einen massiven Zuwachs bei der FPÖ gesorgt. Gerade mit dem Spitzenkandidaten Landbauer, Stichwort Liederbuchaffäre, hat das für Verwunderung gesorgt. Wie sieht die JöH diese Entwicklung?
Wir sind schockiert über die massiven Zugewinne und darüber, dass sehr viele unter 30-Jährige die FPÖ gewählt haben. Das widerspricht tradierten Vorstellungen über die Wählerschaft der FPÖ. Die Tatsache, dass ein Kandidat so populär ist, der mit einem Skandal um den Satz „Wir schaffen die siebte Million“ in Verbindung gebracht wird, ist erschütternd.
Im Jüdischen Museum gibt es momentan eine heiß debattierte Ausstellung zu vermeintlichen Missverständnissen über und unter Juden. Welche Missverständnisse gibt es in Bezug zur JöH?
Dass wir nur über Lueger diskutieren und dass wir ständig mit der Einkaufsrabatt-Karte JÖ verwechselt werden (lacht).