Es reicht nicht, den Antisemitismus nur zu beklagen oder zu verurteilen.
Von Theodor Much
Unter dem Begriff „Antisemitismus“ werden feindliche Einstellung gegenüber Juden und Jüdinnen als Personen oder dem Judentum als Konfession definiert. Es handelt sich, wie der deutsche Soziologe und Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber schreibt, „um eine Feindschaft gegen Juden, weil sie Juden sind“. Erfunden hat den Begriff der Schriftsteller und Journalist Wilhelm Marr, der 1879 die erste antisemitische Vereinigung des deutschen Kaiserreichs schuf, die „Antisemitenliga“.
Nach Umfrageergebnissen der vergangenen Jahre ist „nur“ noch bei einem harten Kern von zehn bis fünfzehn Prozent der Österreicher und Deutschen Judenhass deutlich ausgeprägt, bezeichnenderweise besonders in Gebieten, wo keine Juden leben oder je gelebt haben. Es handelt sich um Antisemitismus ohne Juden. Antijüdische Vorurteile hingegen finden sich bei rund 75 Prozent der Befragten. Das bedeutet aber auch, dass nicht jeder Mensch, der bestimmte antijüdische Vorurteile hegt, automatisch als Antisemit bezeichnet werden kann, weil Vorurteile nicht zwangsläufig zu feindlichen Gefühlen führen müssen.
Bei den typischen antijüdischen Vorurteilen muss zwischen vielfältigen negativen und positiven Klischees unterschieden werden, die ebenfalls keineswegs als harmlos angesehen werden können. Denn wenn jemand beispielsweise meint, dass Juden „tüchtiger“, „schlauer“ oder „intelligenter“ als Nichtjuden seien (hier spricht man vom Philosemitismus), heißt das wiederum nichts anderes, als dass sie eben doch von Natur aus anders sind – eine nicht ungefährliche, weil biologisch gefärbte Schlussfolgerung.
Bösartige Klischees
Antijudaismus – die korrekte Bezeichnung des Phänomens der Ablehnung des Judentums auf Grund religiöser Vorurteile – hat in christlichen Ländern eine fast zweitausendjährige Tradition. Selbst wenn Religion heute nicht mehr eine so dominierende Rolle spielt wie in vergangenen Zeiten, ist dennoch unbestreitbar, dass schon seit Jahrhunderten junge Menschen mit den massiven antijüdischen Beschuldigungen und bösartigen Klischees sowohl im Neuen Testament als auch im Koran aufwuchsen.
Typische derartige Antijudaismen sind u. a. „geldgierige Gesellen“ (Mk 12,32– 37), „Gottes- und Prophetenmörder“ und „Feinde aller Menschen“ (1. Thes 2,14ff), „Kinder des Teufels“ (Joh 8, 37–44), „Diebe und Heuchler“ (Röm 2,22–37), „Schlangenbrut“ (Lk 3,7), „Affen und Schweine“ (Koran 2,65), „die schlimmsten Feinde aller Gläubigen“ (Koran 5,82), „Prophetenmörder“ (Koran 5,70), „von Allah verflucht“ (Koran 4,46 / 5,13 / 5,46 / 9,13). Der muslimische Antisemitismus ist nicht, wie immer wieder fälschlich behauptet wird, ein Phänomen des 20. und 21. Jahrhunderts als Folge des Nahostkonflikts. Das beweisen die unzähligen antijüdischen Pogrome in der gesamten islamischen Welt, wie etwa in Medina (627 n. d. Z.), Granada (1066 n. d. Z.), Fez (1033, 1276, 1465 n. d. Z), Jerusalem (1232, 1920 n. d. Z. oder Hebron (1517, 1834, 1929 n. d. Z.).
Ein übler Judenhasser war der Hitlerfreund Amin al-Husseini, Großmufti von Jerusalem. Er war 1920 der Anführer eines antijüdischen Pogroms in der Altstadt von Jerusalem und während des Zweiten Weltkriegs Mitorganisator der Ermordung von 80.000 Juden am Balkan. Trotzdem kann festgestellt werden, dass Judenverfolgungen im islamischen Raum nie das schreckliche Ausmaß antijüdischer Verbrechen in Europa erreichten.
Aufforderung zur Nächstenliebe
Doch das Christentum des 20. und 21. Jahrhunderts hat längst einen Neuanfang gesetzt und sein Verhältnis zum Judentum großteils neu definiert. Schon im August 1948 haben bei der Gründung des Weltkirchenrates in Amsterdam 146 Kirchen den Antisemitismus als Sünde gegen Gott und die Menschen verurteilt, und mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) kam es zu einer Kehrtwende der katholischen Kirche in Bezug auf sämtliche Formen des Judenhasses. Sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche (mit Ausnahme einiger Untergruppierung innerhalb der Kirchen) vertreten heute die Lehre, dass es keine Kollektivschuld der Juden geben kann für das, was vor 2000 Jahren mit Jesus geschah; dass die Juden nicht von Gott verstoßen wurden; und dass der alte Bund von Gott nie aufgekündigt wurde. Sie bekräftigen, dass Jesus, Maria und alle Apostel Juden waren, dass die Aufforderung zur Nächstenliebe ein Eckpfeiler der hebräischen Bibel (auch „Altes Testament“ genannt) ist und es zwischen Judentum und Christentum eine Art Mutter-Tochter- beziehungsweise Geschwisterbeziehung („älterer und jüngerer Bruder“) gibt.
Das Umdenken der Kirchen in Bezug auf das Judentum und der intensive christlich-jüdische Dialog haben sicherlich sehr viel Positives bewirkt, doch solange viele Menschen immer noch in den alten Denkschemata verharren und antijüdische Vorurteile hegen, wie der längst noch nicht gänzlich überwundene „Anderl-Kult“ in Tirol beweist, bleibt für alle Gutwilligen noch viel zu tun.
Neben dem bereits besprochenen religiösen Antijudaismus gibt es aber noch andere Formen der Judenablehnung. Bekannt sind: der soziale und wirtschaftliche Antisemitismus, der politische Antisemitismus und – seit einigen Jahrzehnten – der antizionistische Antisemitismus. Einzelmerkmale dieser neuartigen Variante des Antisemitismus, bei der man die „bösen Zionisten“ beschimpft und in Wirklichkeit „die Juden“ meint, sind: Ablehnung des Existenzrechts des jüdischen Staates; Verneinung des Anspruchs von Juden auf nationale Selbstbestimmung; Vergleiche von Israel mit Nazideutschland; die einseitige, meist schrille Verdammung Israels wegen wirklicher oder vermeintlicher Menschenrechtsverletzungen, ohne sich jemals um entsetzliche Menschenrechtsverletzungen in anderen Weltgegenden durch Staaten wie China, Iran, Russland oder die Türkei zu kümmern; Negierung des Holocausts; Projektion der Politik Israels auf das Verhalten aller Juden der Welt; und das Gutheißen von Anschlägen gegen unschuldige Personen jüdischer Abstammung in und außerhalb von Israel. Diese Art des offenen und latenten Antisemitismus ist besonders bei Rechts- und Linksextremisten zu finden, aber auch im Rahmen des weltweit agierenden fundamentalistischen Islams. Freilich darf eine ausgewogene, ja selbst eine scharfe Kritik an der israelischen Regierungspolitik nicht automatisch mit Antisemitismus gleichgesetzt werden. Eine fundierte, faire und konstruktive Kritik ist immer legitim.
Bis vor einigen Jahren hielten sich Antisemiten mit offen geäußerten Verleumdungen weitgehend zurück. Doch nach und nach ändert sich das Bild. Offener und versteckter Antisemitismus wird gesellschaftlich und politisch immer mehr toleriert. Die Bereitschaft der Bürger, der Justiz und der Politik, gegen antijüdische Hetzer vorzugehen, nimmt ab.
Vorsichtig formuliert
Aber woran genau erkennt man denn einen Antisemiten? Hier kann unterschieden werden zwischen Personen, die ihre Judenfeindschaft offen artikulieren, also Juden und das Judentum öffentlich oder auch im kleinen Kreis herabsetzen und solchen Menschen, die zwar vorsichtiger formulieren, aber eigentlich Gleiches sagen wollen. Sie sprechen gerne von den „Mächten der Ostküste“ oder versuchen, Juden als „übermäßig einflussreiche und heimatlose Gesellen“ darzustellen. Gleiches gilt für den Umgang mit kriminell gewordenen Personen wie etwa dem Finanzbetrüger Bernard Madoff. Sobald es sich um Juden handelt, wird ihre Religion betont.
Der Antijudaismus/Antisemitismus ist ein schwer zu behebendes und irritierendes Uraltphänomen, das nur durch konsequente Erziehung der Jugend, Aufklärung weiter Bevölkerungskreise, interkonfessionellen Dialog sowie gesellschaftliche bzw. politische Ächtung der Hetzer aus der Welt geschafft werden kann. Es erscheint daher dringend notwendig, in erster Linie die vielen Vorurteile gegen Jüdinnen und Juden gezielt zu bekämpfen. Denn es reicht nicht, den Antisemitismus nur zu beklagen oder zu verurteilen.