Von Martin Engelberg
Die allgemeine Dominanz der USA wird in Europa sehr wohl wahrgenommen, wenn auch häufig mit einem höhnischen „Naja, aber …“ zu entkräften gesucht. Hier einige Beispiele: Das Durchschnittseinkommen in den USA ist etwa um 40 Prozent höher als das in Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Das Durchschnittsalter in den USA beträgt derzeit 36 Jahre, jenes in Europa 38. Im Jahr 2050 wird es in den USA noch immer 36 Jahre betragen, in Europa jedoch 53. Die EU-Bevölkerung beträgt derzeit 380 Millionen gegenüber 280 Millionen in den USA – die Differenz wird durch die EU-Beitritte im Jahr 2004 noch größer werden. Im Jahr 2050 jedoch wird die Bevölkerung der USA bereits auf 440 bis 550 Millionen angewachsen sein und damit werden die USA mehr Einwohner haben als die erweiterte EU. In den USA werden mehr Patente angemeldet als von allen EU-Staaten zusammen; sie haben dreimal so viele Nobelpreisträger wie das in der Statistik hinter ihnen liegende Land (Großbritannien) und besitzen 90 der Top-100-Universitäten der Welt. Die USA sind heute nicht nur das Zentrum der politischen und militärischen Macht, sondern auch das der Kultur, der Wissenschaft, des Fortschritts.
War bis zum Zweiten Weltkrieg Europa der Nabel der Welt und die USA provinziell, so hat sich dies heute ins Gegenteil verkehrt. War Europa vor dem Zweiten Weltkrieg das Zentrum des jüdischen Lebens, jener Ort, wo die Symbiose von Judentum und der Aufklärung verbundenen europäischen Nationen die größten Errungenschaften auf allen Gebieten erzielte, so sind es heute eindeutig die USA. Europa hingegen droht zur Provinz, zum größten Freilichtmuseum zu werden. „Größtes Freilichtmuseum“ klingt zwar zunächst gemütlich, weil es Kultur und hohe Lebensqualität insinuiert. Unlängst aber stellte der US-Botschafter bei der EU fest, Europa gehe auf den Punkt zu, wo es „so schlimm würde wie in den 30er Jahren“. Im Allgemeinen wurde diese Stellungnahme als absurd – wo gäbe es denn z. B. „Nürnberger Rassegesetze“? – zurückgewiesen. Diese Vorwürfe würden nur dazu dienen, Kritiker an Israel und an der Politik der USA im Nahen Osten einzuschüchtern (= gemeint ist, dass durch den Vorwurf – Europa wäre wieder so schlimm wie in den 30er Jahren – Europa eingeschüchtert werden solle). Das klang auch wieder plausibel, doch halt – irgendetwas hat es mit den 30er Jahren vielleicht doch auf sich: Begriffe wie Neid, die ohnmächtige Wut des Erfolglosen, Unterlegenen, zu kurz Gekommenen, also die Wut des „narzisstisch Gekränkten“, finden sich doch seit einiger Zeit wieder zuhauf in den Statements europäischer Politiker und Meinungsmacher. Also Erscheinungen, die sehr wohl bereits im Europa der 30er Jahre, am Vorabend der Schoah, zu beobachten waren.
Genau jene Ressentiments, die sich damals gegen die jüdischen Nachbarn und die europäischen Juden richteten, richten sich heute gegen die USA. Jene USA, die mit einer wieder an die 30er Jahre gemahnenden Deutlichkeit ständig als „von Juden dominiert“ bezeichnet werden.
Politiker, weit innerhalb des „Verfassungsbogens“, sprechen von der „Ostküste“ und den „Neokonservativen“ und meinen damit „die Juden“, die angeblich die Politik der USA bestimmen. Es gehört zum gesicherten Allgemeinwissen europäischer Politiker und Journalisten, dass die Politik der USA gegenüber Israel ausschließlich auf das erfolgreiche Wirken der jüdischen/zionistischen Lobbys, auf die „Macht der Juden“ zurückzuführen sei.
Hier haben wir sie wieder, die altbekannte schaurig-hasserfüllte Gefühlsmischung der Antisemiten – eine trübe Melange aus heimlicher Ehrfurcht und Bewunderung, gepaart mit dem Wunsch, am Erfolg teilzuhaben, sich aber gleichzeitig zurückgesetzt und minderwertig fühlend. Der altbekannte Mythos von jüdischer Macht, Tüchtigkeit und weltweiter Verschwörung wird nunmehr mit den USA identifiziert.
Paradoxerweise führten genau diese Ressentiments dazu, dass Jörg Haider in der Vergangenheit immer wieder in die USA pilgerte, um zu studieren, Klinken zu putzen und in die – in seinen Augen – innersten Zirkel der Macht vorzudringen, um heute die USA zu verachten und deren Präsidenten mit einem psychopathischen Massenmörder gleichzusetzen.
Anderes Beispiel: Lassen wir uns doch den Bericht der „Kronen Zeitung“ über den präsumtiven demokratischen Präsidentschaftskandidaten auf der Zunge zergehen: „John F. Kerry, Enkel von Fritz Abraham Kohn … und seine Frau Ida, geborene Loew, wechselten die Religion (von mosaisch auf katholisch, Anm.). …. Kein Wunder, dass sich auch unter den Rivalen John Kerrys im demokratischen Lager drei Kandidaten mit jüdischen Familienbanden befinden. So ist der Landarzt Dr. Howard Dean mit Dr. Judith Steinberg verheiratet und lässt seine Kinder in jüdischen Schulen erziehen. General Wesley Clark, der ursprünglich Wesley Kanne hieß, hat einen jüdischen Vater und Senator Joe Lieberman, der sich im Jahre 2000 um die Vizepräsidentschaft bewarb, ist jüdischorthodox. … Heute dürfte dem Katholiken Kerry seine neu entdeckte jüdische Herkunft sogar nützen!“ („Krone Bunt“, 15.2.2004)
Aber warum sollten diese Dinge für die Juden in Europa gefährlich werden? Ich glaube nicht, dass es jetzt mehr Antisemiten gibt als früher, und es ist unseriös, alle paar Monate zu verkünden, der Antisemitismus sei so schlimm wie noch nie. Aber Tatsache ist: Für Juden ist es ein ordentliches Stück ungemütlicher geworden in Europa. Die „Rischeß“ – ein wunderbar passender jiddischer Ausdruck – ist viel deutlicher zu spüren. Denn hinter der vorgeblich sachlichen und gerechtfertigten Kritik an Israel und den USA quellen die Ressentiments nur so hervor. Sie sind direkter zu spüren, weil es oft Freunde und Bekannte, Politiker und Journalisten sind, die so agieren.
Diese ressentimentbeladene Stimmung in Europa hat in letzter Zeit eine zusätzliche Brisanz bekommen: Die muslimische Welt und ihre rapid gewachsenen „Outlets“ in Europa befinden sich in einer Entwicklung, die jener des Deutschlands des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts gleicht. Mit einer gewaltigen Animosität gegen den Westen und die Juden. Die Juden dienen als Projektionsfläche für all das Böse und Unreine, das die eigenen Werte zu korrumpieren droht. Dies gepaart mit einem Todeskult, in dem die Aufopferung für das Vaterland oder für die Religion als größte Erfüllung angesehen wird.
Schreitet diese Entwicklung in jenem Europa, das ohnehin durch den Schatten des eigenen Antisemitismus gelähmt ist, und das bisher – im Gegensatz zu den USA – nicht imstande war, die Muslime zu integrieren, fort, wird es für Juden nicht mehr nur ungemütlich in Europa, sondern wirklich gefährlich.