Die 125 Jahre alte New Yorker jiddische Zeitung „Forverts – The Forward“ liefert online und auf Englisch kräftige Lebenszeichen – mit Kanons der besten jüdischen Popsongs und Filmszenen.
Von Otmar Lahodynsky
Anfang der 1930er Jahre war ihre Druckauflage mit 275.000 Exemplaren sogar höher als die der New York Times: Die in New York in jiddischer Sprache erscheinende Tageszeitung Forverts – englisch: The Jewish Daily Forward – richtete sich vor allem an die jüdischen Einwanderer aus Osteuropa. Sie informierte ihre Leserschaft über aktuelle Ereignisse und gab Orientierung bei der Integration in die US-amerikanische Politik, Gesellschaft und Lebensweise. Der Name wurde vom Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie Vorwärts übernommen.
Gegründet wurde die Zeitung im April 1897 von Abraham Cahan, der eine sozialistische Blattlinie vorgab und die Zeitung als Verteidigerin von sozialen Rechten und Anliegen der Gewerkschaft positionierte. Er ließ auch Leo Trotzki eine Kolumne schreiben.
Der Redaktion der Zeitung gehörten damals viele Vertreter der jiddischen Literatur an: der spätere Literaturnobelpreisträger Isaac Bashevis Singer, Elie Wiesel oder Morris Rosenfeld, der Reportagen aus den Fabriken und „sweatshops“ lieferte. Eine eigene Radiostation der Zeitung, WEVD, informierte ebenfalls in jiddischer Sprache.
Blattgründer Cahan stand hinter dem publizistischen Erfolg, sein Einfluss reichte bis ins Weiße Haus. Er prägte die unabhängige Grundlinie: „In tausenden jüdischen Haushalten quer durchs Land war Forverts jahrzehntelang mehr als eine Tageszeitung – sie war vertrauenswürdiger Berater und Familienmitglied“, lautete ein Werbetext. 1921 verbrachte Cahan mehrere Wochen in Berlin und wurde von prominenten sozialdemokratischen Politikern empfangen. Auf dem 1912 errichteten New Yorker Forverts-Gebäude beim Seward Park prangen Konterfeis von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs folgte der Niedergang: Die jiddisch sprechende Welt Osteuropas existierte wegen des Holocaust nicht mehr und in den USA wurde die jiddisch-kundige Leserschaft immer älter. 1951 starb auch Cahan. 1983 erfolgte die Umstellung auf wöchentliche Erscheinungsweise mit einer englischsprachigen Beilage.
Die Besten der Besten
1990 beschloss die „Forward Association“ als Herausgeberin den Relaunch als englischsprachige Wochenzeitung The Forward. Der angesehene Journalist J. J. Goldberg übernahm das Magazin im Jahr 2000 und trieb die Auflage bis 2008 in neue Höhen. Leitende Redakteure kamen mit Seth Lipsky vom Wall Street Journal und zuletzt mit der bis heute amtierenden Chefredakteurin Jodi Rudoren von der New York Times, wo sie zuvor das Büro in Jerusalem leitete. Rudoren stellte 2019 die Print-Ausgabe ein und übersiedelte The Forward ins Internet. Trotz Bezahlschranke weisen die englische und die (kleinere) jiddische Ausgabe dort eine wachsende Zahl von Abonnenten auf.
Die Kolumne Fast Forward richtet sich vor allem an jüngere Juden, kommentiert aber auch Themen wie Antisemitismus und das Zeitgeschehen in den USA und Israel. So deckte The Forward vor wenigen Wochen auf, dass der republikanische Kandidat bei den Gouverneurswahlen in Illinois, Darren Bailey, auf Facebook die krude Behauptung aufgestellt hatte, dass der Holocaust auf der Skala der menschlichen Grausamkeiten „nicht im entferntesten“ so schlimm wie die Folgen der Abtreibung gewesen sei.
Neue Leserschichten versucht die Publikation nun mit aufwendig gestalteten Bestenlisten anzulocken. Anfang 2022 wurde der Kanon 150 best Jewish Pop Songs veröffentlicht. Eine Jury wählte dafür Werke von Bob Dylan, Leonard Cohen, Paul Simon, Randy Newman, Esther Ofarim und Amy Winehouse, aber auch weniger bekannte Songs wie Good Evening Mr. Waldheim von Lou Reed aus. Kinky Friedman, der heute 77-jährige Sänger und Satiriker aus Texas, ist mit dem provokanten Lied They are not making Jews like Jesus any more vertreten. Gekürt wurden nicht nur jüdische Autoren oder Interpreten, sondern auch Songs über jüdische Themen wie Isaac von Madonna oder David Bowies Station to Station, wo beide alte Motive aus der Kabbala einbauten. Dem Holocaust widmet die Bestenliste mehrere Songs, wie Ghosts of Dachau von The Style Council oder das provokant gemeinte Belsen was a Gas von den Sex Pistols. Eine kurze Auswahl des Kanons präsentierte der Autor dieser Zeilen am 1. Mai in der Ö1-Sendung Spielräume spezial.
Derzeit stellt TheForward.com einen neuen Kanon online: 125 greatest Jewish movie scenes. Darunter findet sich Woody Allens Annie Hall mit dem witzigen Kontrast von Dinner-Parties einer protestantischen und einer jüdischen Familie in New York. In The Big Lebowski erklärt der Konvertit, warum er am Schabbat die Bowling-Kugel ruhen lässt. In Borat führt Sasha Baron Cohen die angebliche kasachische Tradition „Running the Jew“ vor. In Cabaret gesteht Fritz seiner jüdischen Geliebten im Berlin der 1930er Jahre, dass er Jude ist.
Und mit Szenen aus Filmen von Barbra Streisand will The Forward offenbar ein Versäumnis aus dem Pop-Song-Kanon wettmachen: Dort fand die Jury keinen einzigen ihrer Songs für aufnahmewürdig.