Von Alex Reiserer, London
Dieser Beitrag kommt zu spät und zu früh zugleich. Zu spät, weil das 1932 gegründete jüdische Museum im Nordlondoner Stadtteil Camden im Vorjahr kurz nach seinem 75. Geburtstag geschlossen hat. Zu früh, weil es im August des kommenden Jahres in neuer, erweiterter Form wiedereröffnet wird. Neun Millionen Pfund werden derzeit in den Ausbau des Museums investiert, das dann auf erweiterter Fläche ein Bild des jüdischen Lebens in England seit 1066 entfalten wird.
Die Geschichte der Juden im heutigen Großbritannien beginnt mit der Eroberung der Insel durch die Normannen, obwohl einzelne Quellen jüdische Spuren bis zur Zeit der Römer feststellen wollen. William the Conquerer lud nach seinem Sieg 1066 jüdische Kaufleute aus Rouen zur Niederlassung in seinem neuen Reich ein, weil er sich von ihren Geschäftsverbindungen Nutzen versprach.
Ihr rechtlicher Status blieb freilich vorerst ungeklärt, erst sein Nachfolger Henry I. (1100–1135) gewährte den Juden Schutz und Rechte, die der Gemeinde ein Prosperieren erlaubten. Die Exponate im „alten“ jüdischen Museum gehen bis in die älteste Zeit zurück, so gehört der älteste englische Chanukka-Leuchter zu den Prachtstücken der Sammlung, die als eine der besten der Welt gilt.
Großen Raum nahm in der derzeit geschlossenen Ausstellung auch der erste große Bruch im englischjüdischen Zusammenleben ein, das Massaker von York 1190. In der Nacht vor dem Sabbat vor Pessach suchten die Juden der Stadt angesichts vorangegangener Pogrome in London und anderen Städten vor einem marodierenden Mob in einem Turm Zuflucht. Der Turm wurde daraufhin von Kreuzrittern belagert, die von den Juden verlangten, sich taufen zu lassen.
Der Anführer der Juden, Rabbi Yom Tov, entschied, dass die Juden eher Selbstmord begehen würden, als sich taufen zu lassen. Er selbst begann damit, indem er seine Frau und seine beiden Kinder erstach. Die anderen Männer folgten seinem Beispiel. Danach begingen sie Selbstmord. Der Letzte, der Hand an sich legte, war Rabbi Yom Tov. 57 Juden starben. Die Kreuzritter legten den Turm nach der Eroberung in Schutt und Asche, nur das Museum bewahrt das Gedenken an die Märtyrer.
Im Zeichen des religiösen Wahnfiebers der Kreuzzüge erleben die Juden in England eine schwere Zeit. Pogrome sind an der Tagesordnung, per Gesetz werden sie immer weiter aus dem gesellschaftlichen Leben gedrängt. Edward I. verfügte schließlich 1290 die Vertreibung aller Juden aus England, ein Datum, das bis heute eine Wunde in der gemeinsamen Geschichte darstellt. Bis zu 16.000 Juden mussten das Land verlassen, eine Handvoll schaffte es zu bleiben, die meisten, indem sie pro forma den christlichen Glauben annahmen. Erst unter Oliver Cromwell durften die Juden 1655 nach England zurückkehren, indem der Bann nicht aufgehoben, aber auch nicht mehr angewendet wurde. Wie William the Conquerer tat Revolutionsführer Cromwell diesen Schritt vor allem aus wirtschaftlichen Überlegungen. Wie Schriftstücke im Besitz des Museums zeigen, erhoffte er sich, von den jüdischen Handelsfamilien aus Frankreich, Holland und Deutschland zu profitieren.
Mit dem Abfall Englands von Rom und später mit der Union mit Schottland verlor das Land irgendwann seinen religiösen Eifer. War das eine Folge der industriellen Revolution oder eine Bedingung für sie? Der Bestand des jüdischen Museums macht jedenfalls eindrucksvoll deutlich, wie das jüdische Leben in Großbritannien ab dem 19. Jahrhundert zu florieren begann. Die Thora-Rollen, die Chanukka- Leuchter, die Abbildungen der Synagogen – alles wird von Jahr zu Jahr größer, prächtiger und reicher. 1837 adelt Queen Victoria Moses Montefiore, 1874 wird Benjamin Disraeli Premierminister und 1884 zieht Nathan Mayer Rothschild als Baron Rothschild ins House of Lords ein – die Juden waren an den Zitadellen der Macht angelangt.
Zugleich beginnt in dieser Zeit eine zweite jüdische Geschichte, die der Masseneinwanderung osteuropäischer Juden, die vor den Pogromen im zaristischen Russland und ihrer Verdammnis zur Armut im habsburgischen Galizien flüchten. Das Londoner East End wird ihnen zur neuen Heimat. Die Bevölkerungszahl der Juden in Großbritannien steigt von etwa 45.000 im Jahr 1882 auf mehr als eine Viertelmillion im Jahr 1919. Ungezählte prägen später das britische Leben in Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst.
Damit hörte im alten jüdischen Museum die Ausstellung weitgehend auf, und der naive Besucher rieb sich ein wenig die Augen. Fehlt da nicht etwas ganz Entscheidendes? Kann es ein jüdisches Museum ohne den Holocaust geben? Ist das nicht nahezu ein Affront, wenn man an die jüdischen Museen in Berlin, Amsterdam oder Krakau denkt, von Gedenkstätten wie Yad Vashem ganz zu schweigen?
Man ist verwundert, auch irritiert. Aber dann verlässt man das Museum und kehrt in der Nähe etwa auf einen Bagel ein um zu verstehen, dass der Ansatz des London Jewish Museum wohl bewusst einen Kontrapunkt setzen will. Das jüdische Museum hat nicht das Gedenken an den Tod im Mittelpunkt – dafür gibt es in London eine Vielzahl herausragender Stätten, von der Außenstelle des Jewish Museum in der Finchley Road, die ab August 2009 in das Haupthaus in Camden integriert sein wird, über die beeindruckende Holocaust-Ausstellung im Imperial War Museum bis zu der unendlich wertvollen Exil-Forschungsstelle The Wiener Library. Stattdessen feiert das Museum das jüdische Leben.
Was man im jüdischen Museum London lernt, ist, dass das jüdische Leben Londons nicht im Museum ist, wie in allzu vielen Städten auf dem Kontinent. Jüdisches Leben ist in London Alltag, von den Ultraorthodoxen in Stamford Hill bis zu den liberalen Reformsynagogen in Maida Vale. Hunderte jüdische Gebetshäuser, Schulen, Geschäfte und Restaurants zieren die britischen Hauptstadt mit einer großen Selbstverständlichkeit. Die älteste Synagoge Londons, in der bis heute gebetet wird, ist mehr als 300 Jahre alt.
Jeden Freitag spricht der Chief Rabbi vor dem Sabbat in der BBC zur besten Sendezeit. Seit 1858 hat es kein britisches Parlament ohne jüdischen Abgeordneten gegeben. Der Holocaust-Gedenktag am 27. Jänner ist einer der bedeutendsten Anlässe des öffentlichen Lebens, an dem die Staatsspitze vom Königshaus abwärts vollständig vertreten ist.
Das neue jüdische Museum, das im kommenden August eröffnet, will nach Angaben seiner Leitung mehr als bisher das fürchterliche 20. Jahrhundert einbeziehen. Ein eigener Schwerpunkt soll auf Holocaust- Erziehung gelegt werden. Dagegen ist nichts einzuwenden, zumal die Briten auf dem Gebiet der Museumspädagogik führend sind und wohl keine Stadt Europas so sehr auf Zeitzeugen und ihre Berichte vertrauen kann wie London.
Sie sind Teil der auf rund 300.000 Menschen geschätzten jüdischen Gemeinde Großbritanniens, von denen mehr als zwei Drittel in der Hauptstadt leben. Ein jüdisches Leben ohne Gedenken und Bewusstsein des Todes gibt es nicht. Das Leben aber ist der Sieg über den Tod. Das ist die Botschaft des jüdischen Lebens in London, die auch in seinem neu gestalteten Museum Ausdruck finden soll.
JÜDISCHES MUSEUM LONDON
Wiedereröffnung im Jahr 2009.
Nähere Informationen unter
www.jewishmuseum.org.uk
oder +44/(0)20/8371 7373