Oliver Rathkolb ist seit Kurzem Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Wien. NU sprach mit ihm über die Lehren, die die Politik aus der Vergangenheit ziehen kann.
Von Barbara Tóth (Interview) und Peter Rigaud (Fotos)
NU: In Ungarn fordern rechtsextreme Gardisten ein ethnisch reines Großungarn – ohne Roma, Sinti und Juden. Wie kann so etwas aktuell mitten in Europa passieren?
Rathkolb: Am Ludwig-Boltzmann- Institut für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit haben wir vor kurzem eine Feldforschung in der ungarisch-slowakischen Grenzstadt Komárom/Komarno abgeschlossen, die zeigt, dass es auf beiden Seiten leider nach wie vor ein sehr gespaltenes Geschichtsbild gibt. Es ist extrem schwierig, eine gemeinsame Ebene zu finden. Der ungarische Politiker Miklós Horthy wird nach wie vor als Held gesehen, obwohl er mit den Nationalsozialisten kooperierte. Das Überraschende ist, wie solche Mythen noch immer von Generation zu Generation weitergegeben werden. Anstatt dass die Politik als Mediator auftritt und versucht, dieses historische Erbe sozusagen neu zu verhandeln, funktionalisiert sie es für ihre eigenen Zwecke. Es wäre hoch an der Zeit, diese nationalen Stereotypen auf den Kopf zu stellen.
Wie kann es sein, dass einige hundert Fanatiker – mehr sind es ja nicht, die die Garden ausmachen – so viel Einfluss auf die nationale Politik haben?
Es funktioniert deswegen, weil es eine schweigende Akzeptanz für diese nationalistischen Debatten gibt. Die, die im Straßenbild gegenwärtig sind, repräsentieren eine kleine, extremistische Gruppe. Aber sie kann eine Leerstelle bespielen, die die Politik hinterlassen hat. Mit dem Vertrag von Trianon haben die Ungarn, das zeigen alle Umfragen, eben nach wie vor Probleme. Uns ist der Staatsvertrag von St. Germain inzwischen egal, das interessiert nur mehr Historiker – es ist „kalte Geschichte“. In Ungarn ist das anders. Aber denken wir nur an die Ortstafelfrage in Kärnten. Da haben wir unsere „politische Leerstelle“. Eine völlig irrelevante Debatte wird dazu genutzt, eine Kärntner Subidentität zu kreieren und Wählerstimmen zu holen.
Kommen wir nach Österreich: Bis April 2009 soll ein Museumskonzept für das „Haus der Geschichte“ vorliegen. Was erwarten Sie sich?
Der große Schritt nach vorne ist, dass man dieses Großprojekt endlich den Fängen von – ich sage das ganz offen – Historikerlobbys entrissen hat und damit auch die Koalitionsgeschichtsschreibung überwunden hat. Die Sache liegt jetzt bei professionellen Museumsgestaltern. Das ist ein Quantensprung. Die Politik lässt zum ersten Mal die Finger von diesem Projekt. Das muss man Kanzler Alfred Gusenbauer positiv anrechnen. Es würde heute ja auch der Kulturministerin nicht mehr einfallen, dem hoch subventionierten Burgtheater den Spielplan vorzuschreiben.
Was meinen Sie mit „Historikerlobbys“?
Es gab immer einzelne Interessenlagen individueller Proponenten, die mit Forschungsaufträgen belohnt wurden. Das ist jetzt vorbei. Jetzt ist ein internationales, unabhängiges Museumsentwicklungsteam um die Gruppe Lord/Haas am Zug. Das Zweite, was gelungen ist: Endlich passiert, was Historiker in Seminaren schon seit Langem predigen. Es gibt keine abgekapselten, abgeschlossenen Geschichtsverläufe samt Jubiläen wie 1918, es gibt keine Stunde null. Das Museum knüpft am Jahr 1848 an, also im 19. Jahrhundert, aber auch das ist nur eine Chiffre.
1848, nicht 1918 anzusetzen – ist das nicht auch ein Türöffner für eine europäische Betrachtungsweise, weg von der österreichischen Nationalgeschichte?
Absolut. Die österreichische Selbstbespiegelung, die in allen vorgeschlagenen Projekten vorhanden war, auch im Versuch, ein Holocaustmuseum zu etablieren, gerät damit in den Hintergrund. Wenn man 1848 ansetzt, muss man auch die Geschichte der Nachbarstaaten integrieren, die aufkommenden Nationalismen, die Industrialisierung und Globalisierung. Das 19. Jahrhundert ist in vielem ein wesentlich besserer Anknüpfungspunkt, wenn man die Gegenwart erklären möchte. Aktienspekulanten verhielten sich damals nicht anders als heute, Stereotypen, wie Österreicher etwa Tschechen sehen, haben sich erstaunlicherweise auch kaum verändert.
Sie haben das Holocaustmuseum schon erwähnt. Leon Zelman schwebte ein Museum vor, das den jüdischen Beitrag stark betont. Inwiefern wird sich das im neuen Haus wiederfinden?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass man dieses Thema ausklammert. Dessen ist sich sicher jeder ernst zu nehmende Museumsmacher bewusst. Nur: Auch hier sollte man im 19. Jahrhundert beginnen. Gerade das Jahr 1848 ist für Jüdinnen und Juden der Beginn der Emanzipation. Das ist übrigens ein wichtiger Punkt: Man muss das Jahr 1848 aus der deutschnationalen Erinnerungskultur herausholen, die in der öffentlichen Wahrnehmung überwiegt. Das Verhältnis der jüdischen Bevölkerung zum Staat Österreich und zu den nicht jüdischen Österreicherinnen und Österreichern muss eine wichtige Rolle spielen. Der Kreisky-Wiesenthal-Konflikt, die Waldheim-Affäre dürfen da nicht fehlen.
Der Holocaust als europäischer Erinnerungsort aber auch nicht, oder?
Natürlich. Aber man muss sich bewusst sein, dass es ein gespaltener, ein vielstimmiger Erinnerungsort ist. Das muss man auch so präsentieren. In Deutschland hat er eine ganz andere Valenz als in der Tschechischen Republik oder in den baltischen Staaten. Gerade Wien wäre ein guter Ort, um die Debatte über diesen „negativen Erinnerungsort Europas“ voranzutreiben. Aber die Versuche, von oben eine Art paneuropäische Erfahrung zu initiieren, sind meiner Meinung nach schon im Jahr 2000 mit den sogenannten „EU-Sanktionen“ gegen die damalige österreichische Regierung kläglichst gescheitert. Es gab auch seitdem keinerlei Versuche in diese Richtung.
Im Gegenteil: In Italien, in der Slowakei – überall regieren Rechtspopulisten mit und Brüssel schweigt dazu.
Es liegt jetzt an den Europäern selbst, diese Debatte auf gesellschaftspolitischer Ebene zu führen. Auf politischer Ebene sehe ich eher eine Rückkehr der nationalstaatlichen Debatten, auch, was den Holocaust betrifft. Auch die Impulse aus den USA haben nachgelassen, die sind mit ganz anderen Themen beschäftigt.
Von den Nationalstaaten in die Provinz: Jörg Haiders Begräbnis wurde in Kärnten zu einem Massentrauerevent – wie erklärt sich ein Historiker solche Phänomene?
Es ist in der Tat ein sehr provinzielles Phänomen. Sie finden nichts Vergleichbares in anderen Regionen, nicht einmal in Wien, wo ein sehr beliebter Politiker wie Helmut Zilk zu Grabe getragen wurde. Wobei man mit dem Begriff „Massentrauerevent“ aufpassen sollte. Der ORF ist nämlich in die Sache so eingestiegen, dass er vergessen hat, dass 20.000 bis 25.000 Menschen keine so große Anzahl ist. Bei jedem Rapid-Match sind mindestens 17.000 unterwegs. Es war ein lokaler Event, der durch die ORF-Berichterstattung zu einem scheinbar gesamtnationalen Ereignis gemacht worden ist.
Was bleibt vom BZÖ nach Haider?
Was sich jetzt in Kärnten abspielt, ist der Versuch, mit einer Führungspersönlichkeit post mortem noch etwas politisches Kleingeld herauszuholen. Dass sich seine Frau und seine Kinder nicht instrumentalisieren lassen, ist für mich ein Indiz, dass sie das zumindest derzeit kritisch sehen. Vielleicht reicht es noch für einen weiteren Sieg bei den nächsten Landtagswahlen. Aber dann muss sich das BZÖ etwas anderes einfallen lassen. Der Mythos Haider ist nicht stark genug. Am Ende wird wohl eine Kooperation, ein langsames Aufgehen in der FPÖ stehen.
Dass Martin Graf zum Dritten Nationalratspräsidenten gewählt wurde, empörte viele, aber nicht viele genug. Sind wir abgestumpft?
Das ist eine schwierige Frage. Eine Verbindung wie die Olympia, der Graf angehört, die einen ostentativen Neonazi wie Norbert Burger in ihrer Ahnengalerie führt, ist mit dem politischen Konsens Österreichs an sich nicht vereinbar. Es gibt immer noch dieses schlampige Verhältnis der Republik, ihrer Eliten und auch der Gesellschaft zum rechten Rand des Deutschnationalismus. Das ist bis heute nicht aufgearbeitet. Wir haben uns nach heftigen Debatten zu einem Grundkonsens in Sachen Österreichs Anteil am Nationalsozialismus und der Shoah durchgerungen. Aber auf die Frage: „Wie halte ich es mit dem rechtsextremen, deutschnationalem Elitenrand?“ gibt es keine so eindeutige Antwort. Der kleine, unbedarfte Straßenbahnfahrer, der „Sieg Heil“ schreit, wird sofort gemaßregelt, der honorige Politiker, der sich seit Jahrzehnten an Debatten beteiligt, wird nicht wirklich thematisiert. Wobei die Debatte sowieso zu spät kommt. Wer, wie die SPÖ und die Grünen, Martin Graf als Vorsitzenden eines wichtigen parlamentarischen Untersuchungsausschusses akzeptiert hat, darf sich nicht wundern, wenn er dann für eine andere Funktion vorgeschlagen wird.
Was hätte man mit dem Straßenbahnfahrer machen sollen? In ein Seminar bei Ihnen setzen?
Absolut. Ich hätte mir erwartet, dass man sich mit diesem Menschen auseinandersetzt. War es eine unbedarfte Aussage? Kommt er aus einem bestimmten Milieu? Hier hätte es einer Mediation bedurft, statt die Diskussion einfach zu beenden. Das ist das Problem in Österreich. Da wird schnell ein Schlussstrich gezogen, anstatt dass man sich überlegt: Ist das eine Einzelmeinung? Gibt es andere, die es so sehen – Straßenbahnfahrer oder Gäste?
Sie sind seit Oktober Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte. Wie tagespolitisch darf ein Wissenschafter sein?
Ich trete immer als individueller Wissenschafter auf, nicht als Institutsvorstand – außer, ich habe eine intern akkordierte Meinung zu vertreten. Ich habe mir auch bisher nie ein Blatt vor den Mund genommen. Ich glaube, dass die Gesellschaft in Form von – zu meiner Zeit noch – kostenlosem Studium und Forschungsprojekten sehr viel in die Ausbildung von Zeithistorikern investiert hat und wir das auch zurückgeben sollten. Es ist notwendig, im öffentlichen Raum wirksam zu werden, das habe ich von Erika Weinzierl gelernt. Dass das von manchen Kollegen – und dem Publikum – nicht immer geschätzt wird, ist ein Faktum, mit dem man leben muss. Als ich vor dem Nationalfeiertag in einem Interview mit dem Ö1- Mittagsjournal kritisch angemerkt habe, dass der Nationalstolz Österreichs inzwischen beinahe übersteigert ist und es vielleicht ganz gut wäre, sich auch mit der österreichischen Identität von Migranten auseinanderzusetzen, habe ich sofort eine sehr lange tadelnde E-Mail bekommen.
Eine ORF-Moderatorin bekommt Hass-E-Mails, weil sie nicht in einem schwarzen, sondern weißen Kostüm über Haiders Tod berichtete, dem Manager des politisch sehr pointierten Kabarettduos Stermann & Grissemann werden die Radmuttern gelockert, Sie kriegen böse Post – wird Österreichs Gesellschaft intoleranter?
Das Problem, das ich sehe, ist, dass immer nur Negativmeinungen kommuniziert werden. Anders als in den USA gibt es keine Tradition, Lob und Zustimmungen zu artikulieren. Deswegen führen wir so oft Negativdebatten. Das ist irritierend, aber leider Tradition in unserer politischen Kultur.