Der jüdische Friedhof von Pisa wurde vor kurzem restauriert und erstmals nach Jahrzehnten für das Publikum geöffnet. Wenige Gehminuten vom Schiefen Turm entfernt, gleich hinter der mittelalterlichen Stadtmauer, haben die Juden von Pisa seit 1674 ihre Toten begraben. Das schattige Areal im Zentrum der Stadt lädt zum Verweilen ein: Durchschlendert man es, eröffnen sich Lebensgeschichten und ein Stück europäischer Geschichte, beginnend mit der Vertreibung der Juden von der Iberischen Halbinsel im Jahr 1492.
Von Peter Menasse
Am Morgen wälzen sich die Massen zur Piazza del Duomo von Pisa. Gerade angekommen – hin zum Schiefen Turm. Der ausgedehnte Platz bietet den Touristen keinen Schatten, gnadenlos brennt die Sonne auf den Turm, die Kathedrale, das Baptisterium und auf die weiten Rasenflächen zwischen den Gebäuden. Vor dem viel bestaunten „torre pendente“ versuchen sich Hobbyfotografen am immer gleichen Motiv. Die Begleiterin muss die Hände vor den Körper halten, als wollte sie einen imaginären Baum abstützen, während der am Boden liegende Amateurkünstler versucht, die flach nach vorne gestreckten Handflächen und die Seitenwand des Turms in seinem Objektiv in eine scheinbare Deckung zu bringen. „Schaut mal, Mama musste den ganzen Urlaub hindurch den Schiefen Turm vor dem Umfallen bewahren“, wird der Mann bald stolz seinen Verwandten zu Hause in Tokio, Cleveland oder Hildesheim erzählen.
Wer den Massen und der unerbittlich sengenden Sonne durch das Tor in der mittelalterlichen Mauer auf die Seite des Baptisteriums entflieht und sich dann gleich nach rechts wendet, kommt nach ein paar Schritten, vorbei an Getränkebuden und fahrenden Händlern, zu einem unscheinbaren Mauerdurchbruch. Eine junge Frau sitzt dort an einem Tischchen und liest. Dahinter ein Park mit alten Bäumen, ein Schattenplatz mitten in der Hitze der staubigen Stadt. Hier werden seit mehr als 300 Jahren die Juden von Pisa begraben.
Im Jahre 1674 übergab Großherzog Ferdinand II. der jüdischen Gemeinde den Platz direkt an der Außenseite der Stadtmauer. Die bis dahin von den Juden verwendeten Friedhöfe benötigte der hohe Herr ganz dringend – er wollte dort Fasane jagen. Doch die Diskriminierung von seinerzeit hat ihr Gutes.
Heute liegt „Il cimitero monumentale ebraico di Pisa“, einer der größten jüdischen Friedhöfe der Welt, mitten im Zentrum der Stadt, während sich der riesige katholische Ruheort weit außerhalb an der Zufahrt zur Autobahn befindet.
Seit Anfang Juli 2003 ist der Friedhof wieder geöffnet. Er war nach 1945 immer mehr dem Verfall preisgegeben gewesen und erst kürzlich dank einer Initiative des Präsidenten der Pisaner Gemeinde und mit Unterstützung eines Vereins namens „alef tav“ restauriert und gesäubert worden. Jetzt harrt er der Touristen, die von kundigen „Guides“ durch das Areal geführt werden, wiewohl noch ganz wenige das Angebot angenommen haben, wie die Eintrittskarte des Chronisten mit der niedrigen Nummer 41 zeigt.
Jüdische Friedhöfe unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von katholischen Ruhestätten. Die Gräber aus Stein sind in der Regel schlichter, das Bilderverbot wird strikt beachtet und es werden die Toten nicht mit Blumen, sondern mit kleinen Steinen geehrt, die aufs Grab gelegt werden. Diese Form der Würdigung hat sich in der Diaspora entwickelt. Auch in der Wüste vergruben die Juden ihre Toten, wie es die Religion einfordert, und schützten sie dann mit aufgeschichteten Steinen vor den Tieren. Blumenschmuck konnten sie ihnen keinen beigeben, also mussten auch dafür die Steine herhalten. Die Form der ältesten Grabsteine im jüdischen Friedhof von Pisa aus dem 17. Jahrhundert erinnert daran. Die länglichen Epitaphe laufen einem Steinhaufen gleich oben zusammen und wirken wie Dächer von im Boden vergrabenen Häusern.
Sie zeugen auch von der Zuwanderung aus Spanien und Portugal nach der Vertreibung der Juden von 1492. Die Längsseite der Grabsteine ist gegen das Gelobte Land gerichtet und weist hebräische Inschriften auf. Auf der gegenüberliegenden Seite finden sich dann die gleichen Worte in einer der iberischen Sprachen.
Die vielen alten Grabsteine aus längst vergangenen Zeiten, die ebenso schief stehen wie der nahe gelegene Turm auf der anderen Seite der Mauer, schaffen eine eigenartig ruhige Atmosphäre, die den Betrachter in vergangene Jahrhunderte versetzt. Der Gegensatz zwischen dem Platz um die Ecke und diesem letzten Ruheplatz der spanischen und portugiesischen Juden könnte größer nicht sein.
Der jüdische Friedhof von Pisa unterscheidet sich seinerseits in vielerlei Hinsicht von anderen jüdischen Ruhestätten. Hier gibt es Grabsteine mit kunstfertigen Aufbauten – wie man sie sonst nur von katholischen Gräbern her kennt – wie steinernen Flammen, symbolisierten Urnen oder kleinen Särge, Tribut wohl an das Heimatland Italien und die Freude seiner Menschen an Schmuck und großer Geste.
Einige neue Grabstätten sind mit Blumen geschmückt. Zugewanderte Russen haben hier ihre Angehörigen begraben und Elemente der Assimilation nach Pisa verpflanzt. Zwei Gräber brechen gar mit dem Bilderverbot. Auf dem Grabstein von Carlo Gammed findet sich nicht nur ein Porträt eines entschlossen blickenden jungen Mannes, sondern daneben gar noch das eingravierte Symbol der politischen Linken: Hammer und Sichel. Der Lehrer Gammed war Parteigänger der Sozialisten, die am Beginn der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts einen erbitterten Kampf gegen den aufkommenden Faschismus führten. Ein Mädchen, das er kannte und das Parteigängerin der Rechten war, rief seine Empörung so sehr hervor, dass er ein grobes, beleidigendes Pamphlet gegen sie verfasste. Was dann folgte, entsprach der Logik seiner politischen Gegner. Die junge Frau heuerte einfach ein paar Burschen aus ihrer faschistischen Gruppe an, die in die Schule eindrangen und den Lehrer kurzerhand erschossen. Carlo Gammed starb 1921, kurz danach ergriff Mussolini die Macht und die Justiz ließ die Mörder laufen.
Heute noch kommen Repräsentanten der sozialistischen Partei Pisa einmal im Jahr auf den jüdischen Friedhof und legen einen Kranz zum Gedenken an den jungen Lehrer nieder. Eine undenkbare Handlung auf einem jüdischen Friedhof. Aber hier am „cimitero ebraico di Pisa“ geht es eben nicht ganz so streng zu wie anderswo.
In der hintersten Ecke des Friedhofs, parallel zur mittelalterlichen Stadtmauer, findet sich eine kleine Steinwand. Sie ist gerade lang genug, um ein mächtiges, in der Regel verschlossenes Tor zu verdecken, das direkt auf die Piazza del Duomo führt. Die unscheinbare Mauer begründete einen der wenigen Konflikte zwischen den christlichen und jüdischen Bürgern von Pisa.
Im Jahr 1961 war Papst Paul VI. zu Besuch in der Stadt. Aus Sicherheitsgründen wollte man den Heiligen Vater nicht über den offenen Platz zur Kathedrale bringen, sondern durch das verborgene Tor des damals für die Öffentlichkeit noch nicht zugänglichen jüdischen Friedhofs. Doch unmittelbar vor dem Durchgang gab es eine Reihe von Gräbern, über die der Papst hätte mühevoll steigen müssen. Also trat man an die israelitische Gemeinde mit der Bitte heran, die Toten umzubetten. Das jedoch gestattet die jüdische Religion nicht. Schließlich wurde ein Kompromiss gefunden. Die Toten durften in ihrer Ruhestatt im Schatten der Stadtmauer verbleiben, nur die Steine wurden versetzt. Vor dem parallel stehenden Mäuerchen auf der „jüdischen Seite“ sieht man jetzt eine Reihe von dicht nebeneinander liegenden Grabsteinen, jene die verlegt wurden, allzu knapp neben jenen, die sich bereits seit Jahrhunderten hier befinden.
Das gute Verhältnis zwischen den Pisaner Christen und Juden hielt auch der Prüfung durch den Faschismus stand. Die meisten Mitglieder der jüdischen Gemeinde überlebten, zum Teil von Helfern versteckt, zum Teil in ihren eigenen Häusern. Tragisch jedoch verlief das Schicksal des Präsidenten der israelitischen Gemeinde. Am 1. 8. 1944, knapp vor der Befreiung Pisas durch die Amerikaner und jüdische Einheiten der britischen Armee, die mehr als ein Jahr lang die Stadt vom anderen Arno-Ufer her belagert hatten, starb er im Kugelhagel abziehender deutscher Soldaten. Giuseppe Pardo Roques war in seinem Haus mit einigen anderen Juden, aber auch christlichen Freunden beim Abendessen gesessen, als plündernde Soldaten eindrangen. Sie erschossen die ganze Abendgesellschaft und machten sich mit ihrer Beute aus dem Staub.
Am 2. 9. 1944 waren die Amerikaner in Pisa, zweiunddreißig Tage nach dem absurden Tod des Präsidenten der Gemeinde. „Soccorso di Pisa“ sagt das Wörterbuch, steht im Italienischen für „zu spät gekommene Hilfe“.
Mit besonderem Stolz schließlich wird dem Besucher die Grabstätte von Giacomo Barone di Castelnuovo gezeigt, der 1886 hier begraben wurde. Er begann seine erstaunliche Karriere als Leibarzt des Königs Umberto I. und diente später auch dessen Nachfolger Vittorio Emanuelle. Als Vertrauensperson wurde er gegen Mitte des 19. Jahrhunderts zu Finanzverhandlungen mit dem Sultan von Tunis entsandt. Diesen überzeugte er so sehr, dass er bald vom Verhandlungspartner zu seinem behandelnden Arzt wurde. Ein Jude, der Botschafter des katholischen Italiens wurde, wurde dann gar noch Leibchirurg eines bedeutenden „musulmano“.
Am jüdischen Friedhof von Pisa liegen Spanier und Portugiesen, Deutsche und Polen, Tschechen und Ungarn, Russen und Italiener – und es liegt hier ein Stück europäischer Geschichte verborgen, bereit entdeckt zu werden.