Der Wiener Filmclub Tacheles präsentiert im Mai und Juni das filmpolitische Werk von Ruth Beckermann. Im Zentrum der Reihe steht die Auseinandersetzung mit Geschichte und Erinnerung.
Von Philipp Pflegerl
Auf die Frage, was Erinnerungskultur in Österreich bedeute, meinte Gerhard Baumgartner, wissenschaftlicher Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes: „Die Österreicher lieben ihre Geschichte, sie wollen sich nur nicht daran erinnern.“ Baumgartner benennt damit ohne Zweifel eine dominante und betrübliche Tendenz in der Geschichte der Zweiten Republik: Bis in die 1970er Jahre und darüber hinaus kennzeichneten Opfermythos, Schuldabwehr und der „gemeinsamen Blick nach vorne“ den unter dem Begriff der „Vergangenheitsbewältigung“ geführten gesellschaftspolitischen Diskurs.
Oft waren es kritische Stimmen von außen – nicht nur geografisch, sondern auch die dem dominanten geschichtspolitischen Narrativ äußerlichen Stimmen –, die wiederholt auf das Defizit der nur mangelhaft stattgefundenen Aufarbeitung hinwiesen. Und häufig stießen diese Stimmen auf starken Widerstand innerhalb der österreichischen Mehrheitsgesellschaft und bei deren Repräsentanten.
Der ungewollte Einbruch der Vergangenheit in den zeitgenössischen politischen Diskurs offenbarte das historische Vermächtnis, das viele abzustreiten versuchten: das Fortbestehen autoritärer, antisemitischer und rassistischer Einstellungen in großen Teilen der Bevölkerung; und die Weigerung, sich mit der Beteiligung an den NS-Verbrechen auseinanderzusetzen.
Antisemitische Chiffren
Es sind immer wieder einzelne Ereignisse, in welchen die Kontinuität des Vergangenen im Gegenwärtigen hervorbricht. Exemplarisch dafür können die Ereignisse rund um die „Waldheim-Affäre“ angesehen werden, die durch einen breiten antisemitischen Diskurs begleitet wurden und Österreich unfreiwillig ins Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit rückten.
Angesichts regelmäßiger „Einzelfälle“ – aktuell etwa antisemitische Verschwörungstheorien, die im Rahmen der Corona-Demonstrationen neuen Aufwind erleben – ist eine traurige historische Kontinuität festzustellen, deren Dynamik in Krisenzeiten zusätzlich an Kraft gewinnt. Wir leben in einer Zeit, in der das „Gerücht über die Juden“ in Form antisemitischer Chiffren von Rothschild bis Soros im öffentlichen Diskurs neue Aktualisierung erfährt; und in der auch Universitäten weltweit zunehmend zum Ort antisemitischer Mobilisierung werden, getragen von Gruppen, die in der Mitte der Gesellschaft zum totalen Boykott des jüdischen Staates aufrufen (BDS).
Gegenprogramm
Als Reaktion auf diese Entwicklungen hat sich 2016 der Filmclub Tacheles gegründet, um im universitären Raum ein klares Gegenprogramm anzubieten. In der Auseinandersetzung mit den Themen Judentum, Israel, Erinnerungskultur und Antisemitismus in Österreich wollen wir zur kritischen Debatte anregen und Studierenden einen Einblick in das vielfältige Werk jüdischer Filmschaffender und deren Perspektiven auf die Vergangenheit und Gegenwart der Welt ermöglichen.
Im Jahr 2017 veranstaltete der Filmclub mit diesem Vorsatz an der Universität Wien unter dem Titel Filmreihe Lanzmann eine Retrospektive zum Œuvre des französischen Regisseurs Claude Lanzmann, der auf Einladung des Filmclubs vor einem voll besetzten Auditorium maximum sprach. Anlässlich des 70. Jahrestags der israelischen Staatsgründung wurde der Universitätscampus 2018 durch den Filmclub in ein Museum umfunktioniert und eine multimediale Ausstellung mit Videostationen eingerichtet. In der Folge fanden weitere Veranstaltungen und Filmvorführungen statt, unter anderem mit dem Zeitzeugen Karl Pfeifer. Vergangenes Jahr wurde eine österreichweite Vorstellung des Langfilms Eine eiserne Kassette von Nils Olger organisiert.
In der Filmreihe Beckermann, die für den Sommer geplant ist, widmen wir uns ganz dem Werk jener Regisseurin, die über Jahrzehnte hinweg den erinnerungspolitischen Film in Österreich mitgeprägt hat und bei der diesjährigen Berlinale mit ihrem neuen Dokuprojekt Mutzenbacher den Hauptpreis in der Sektion Encounters erhielt. Über einen Zeitraum von mehreren Wochen zeigen wir im Mai und Juni dieses Jahres ausgewählte Werke Beckermanns, ergänzt durch wissenschaftliche Vorträge und anschließende Diskussionen.
Erinnerungspolitik
Ruth Beckermanns filmisches Werk steht exemplarisch für eine Kultur des Einspruchs und der Rethematisierung. Denn wiederkehrende antisemitische Auftritte, Äußerungen und Übergriffe sowie das Scheitern des öffentlichen politischen Gedenkens gingen stets auch mit Einspruch und Widerspruch einher: Auch sie sind Teil der erinnerungspolitischen Geschichte Österreichs und können als Orientierungspunkte für die kritische Auseinandersetzung mit dem Geschehenen und dessen Fortbestand in seinen zeitgenössischen Erscheinungsformen dienen.
In Beckermanns Arbeiten kann man von prekären Identitäten und deren Fremd- und Selbstzuschreibungen erfahren; und wie (Un-)Zugehörigkeiten stets von Wandel betroffen sind, wie Geschichte immer wieder neu verhandelt werden und die Erinnerung an das Geschehene oft gegen Widerstand durchgesetzt werden muss.
Beckermann, die stets auf das historische Defizit in der Repräsentation von jüdischer Geschichte in ihrer Komplexität und Vielfalt hinwies und den Umgang mit Geschichte selbst zum Gegenstand dokumentarischer, künstlerischer und politischer Auseinandersetzung machte, zeigt auch heute – wie etwa in ihrem viel diskutierten Film Waldheims Walzer (2018) –, wie wichtig es ist, sich dieser erinnerungspolitischen Geschichte zu widmen. Und wie man wiederum aus der Geschichte des Einspruchs und Widerstands für aktuelle politische Herausforderungen und zukünftige Kämpfe lernen kann.
„Filmreihe Beckermann“
Filmclub Tacheles
Universität Wien, Mai und Juni 2022